Lebe deine eigene Melodie
Denken unter Zugzwang setzt. Wissen und Weisheit brauchen Reifungszeit, das klingt zwar nicht populär in unserer Zeit, aber wir haben ein Recht, unser Nachdenken nicht unter Zwang stellen zu lassen. Der Hauptgrund dafür: Komplexes Urteilen braucht Zeit. Warum? Es hat mit den durchlebten Erfahrungen zu tun, die uns helfen, Wahrgenommenes mit Weitsicht zu interpretieren. Nach Paul Baltes (1994) kommt hinzu, dass wir mehr als in jüngeren Jahren über kontextuelles Wissen verfügen, das heißt über Wissen, das in den Lebenslauf eingebettet ist, und dass wir die Relativität unserer Werte und Meinungen besser durchschauen und Folgen vorhersehen.
Wir brauchen einen emotionalen Raum, in dem wir einfach fühlen dürfen, um unserem Wollen auf die Spur zu kommen. Ein Raum, in dem wir die Zeit als frei Wählende durchleben. In diesem Gefühlsraum, den wir durch Innehalten betreten, kommen wir uns selbst näher. Niemand kann uns hier drängen, schieben oder in den Bann seiner Zeit schlagen. Leo Tolstoi verdanken wir den Satz: »Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann«. Vermutlich hat auch er erkannt, dass das geduldige Warten nicht zu unserer Stärke gehört. Im Wartenkönnen muss man sich üben. Ich glaube sogar, dass diese Fähigkeit wesentlich zur Weisheit beiträgt und umso wertvoller wird, je mehr es um uns herum von gestressten, fordernden, herrschenden Dränglern, Überholern und Effizienten wimmelt. Menschen, die sich Zeit nehmen, verfolgen eine andere Strategie.
Sie lassen sich nicht von allzu viel entschlossener Hektik anstecken. Sie wissen, dass Gefühle Zeit brauchen. Diese Beobachtung können Sie selbst nachvollziehen: Wenn jemand schnell läuft und plötzlich verlangsamt oder innehält, spüren wir intuitiv: Jetzt fühlt er etwas. Eilen und gleichzeitig Fühlen vertragen sich nicht. So wie Beziehungen sich allmählich entwickeln, Einsichten und Erfahrungen erst auf längere Zeit wirken, sind auch Erkenntnisse nicht auf dem kürzesten und schnellsten Weg zu haben.
Genauso wie man meistens mehr Zeit zur Verfügung hat, als man meint, hat man auch mehr Optionen, als man auf den ersten Blick zu haben glaubt. Ein wichtiges Wort in diesem Zusammenhang ist das Wort »Nein«. Ein bewusstes Nein kann zum Wächter werden, der jedem vorschnellen Ja einen Riegel vorschiebt und die eigenen Spielräume schützt. »Eigentlich würde ich gern spontan Ja zu Ihrem Vorschlag sagen, dennoch möchte ich die Angelegenheit erst mit meinem Partner besprechen.« Das wäre eine elegante Art, Nein zu sagen, die sich als bedingtes Ja ausgibt. Auch wenn es schwierig ist »Nein« zu sagen, weil man andere enttäuscht oder sie vor den Kopf stößt, denn wir wollen ja selbst auch nicht verstoßen werden, wiegen die vielen unerkannten Verrate am eigenen Selbst um einiges schwerer. Es braucht Mut und Selbstrespekt, dass man sich nicht mit all dem identifiziert, was man von uns erwartet. Dafür spricht aber der Gewinn an Lebendigkeit und die scheinbare Banalität, dass Reden hilft. Wer Nein sagt, spricht für sich. Oder umgekehrt: Jedes vorschnelle Ja ist ein Nein gegen sich selbst.
Der Kunst der Weisheit nähern wir uns, wenn wir unser zeitbedürftiges und zeitaufwändiges Urteilsvermögen ernst nehmen und anerkennen, dass in manchen Situationen die Vieldeutigkeit und Vielschichtigkeit nicht einfach übergangen werden können. Beispielsweise wenn wir für pflegebedürftige
Nahestehende sorgen, bedeutet es nicht nur, dass wir für sie, sondern auch für uns selbst zu sorgen haben. Obwohl wir das Beste für sie wollen, kann uns diese Bürde an die Grenze der Belastbarkeit treiben. Eine Frau beschreibt es: »Nach Jahren erschöpfender Suche nach immer neuen Behandlungsformen, habe ich endlich eingesehen, dass meine Mutter todsicher sterben wird, egal was auch immer ich für sie tue oder lasse. Es war wie eine Offenbarung, als ich endlich wahrhaben konnte, dass ich sie nicht retten kann. Sie hat ein Recht auf ihr eigenes Schicksal. Seit ich das begriffen habe, achte ich darauf, dass es jedem von uns beiden gut geht, und dass wir es miteinander gut haben. Seit ich nicht mehr ihr Retter bin, sind wir einander so nahe wie noch nie.«
Diese Frau brauchte Jahre, um einzusehen, dass es weiser ist, die Freuden der Zeit auszukosten mit dem Menschen, der einem am Herzen liegt, als sich zu verausgaben im Rettenwollen und Richtigmachen. Vielleicht würde es uns allen gut tun, weniger auf Perfektion und Geben- oder Habenmüssen zu setzen, als
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