Lebe deine eigene Melodie
auf die Freuden, die wir miteinander und aneinander freilegen. Sich miteinander zu freuen ist letztlich die Entlastung, die die vielen Erwartungen, die wir an unsere Nächsten haben, relativiert und lebbar macht.
Geduld erweist sich immer wieder in der Gelassenheit, mit der man Dinge reifen lässt und damit ihre Komplexität anerkennt. Ich spreche nicht vom Verschieben, Verdrängen und Vermeiden von Entschlüssen – »jetzt erst mal vergessen und weitermachen mit dem schönen, netten Alltag« –, sondern von der Souveränität, mit der man sich Räume schafft, in denen man dem eigenen Wollen auf die Spur kommt. Ob das Älterwerden einen weiß oder eben weise macht, hängt von jenen Freiräumen ab, die ein 68-Jähriger eindrücklich beschrieb: »Ich bin zwar fast weißhaarig, aber psychologisch
bin ich weiser geworden. Mich interessieren Menschen viel tiefer als früher. Ich sehe und spüre in ihnen die Kinder, die sie einst waren. Und ich bin viel sensibler gegenüber Farben, Formen und Klängen geworden. Mir gehen die Augen immer mehr auf, und mein Blick rahmt sich automatisch Blumen oder Landschaften. Ich erlebe die Sonne viel intensiver als früher, sofort werde ich heiter und leichter. Ich liebe meine Frau und meine Kinder mehr als früher, als ich so viel arbeitete. Und ich habe Sigmund Freud gelesen. Seine Begriffe kann ich auf mich anwenden: Ich habe kaum noch Interesse an meinem Ego, ich ziehe mein ›Über-Ich‹ vor, und ich bin heilfroh, das mein ›Es‹ allmählich schrumpft.«
Vom Wünschen zum Hoffen
Manchmal packt uns die Verzweiflung oder die Angst, dass alles so schnell vorübergeht. Immer schneller haben wir Abschied zu nehmen von Situationen, Menschen und Liebgewordenem, immer wieder haben wir Wünsche loszulassen, Perspektiven zu ändern. Dunkle Wolken türmen sich auf, das Nicht-Erreichte trotz harter Arbeit, der Schatten im Röntgenbild, das freie sonnige Wochenende, das wir auf dem Sofa vergeuden. Wie gerieten wir bloß in diese traurige Ecke? Und vor allem, wie kommen wir da heraus? Wenn nämlich die Melancholie, uns mit ihren grauen Armen umhüllt, ist sie schwer abzuschütteln. Es mag hilfreich sein zu wissen, wie man zu diesem Gefühl kommt: durch Monotonie, Hilflosigkeit, Langeweile, Alkohol, Entmutigung, endlose Stunden vor dem Fernseher. Aber wichtiger scheint die Frage, was das Leben von uns verlangt, wenn es gut weitergehen soll. Wer mehr pragmatisch denkt, mag sein Leben mit Aktivitäten aufmischen, mit Kontakten bevölkern, mit Stress würzen, dass es nicht steckenbleibt. Wer es geübt hat, sich selbst zu reflektieren, mag sich fragen: Was sind meine Wünsche und Hoffnungen? Merkwürdig, dass die meisten lieber über ihren schmerzenden Rücken oder das dicke Knie sprechen. Schmerz und Unglück sind scheinbar ein besserer Gesprächsstoff als unsere möglichen Freuden oder Schätze, die darauf warten, von uns gefunden zu werden. Dabei sind Hoffnungen und Wünsche unsere stärksten Ressourcen, die uns in neue Lebenserfahrungen ziehen. Aber vielleicht sprechen wir zu wenig darüber, weil wir um ihre Zerbrechlichkeit wissen und um die Gefahr, dass sie enttäuscht werden könnten.
Die Vergangenheit prägt uns und die Hoffnung bewegt uns nach vorn. Je älter wir werden, desto mehr sind wir auf
die Kraft, die in der Hoffnung steckt, angewiesen. Natürlich nicht auf die falsche Hoffnung, die vermeidet, nicht hinschaut und sich in Traumtänzereien entzieht. Ich meine die Hoffnung, die den Weg aus Angst und Verzweiflung weist, die uns bestärkt und ermutigt.
Älterwerden könnte man als Weg vom Wünschen zum Hoffen beschreiben. Jene lange Zeit beflügelnder, handfester Wünsche von der Beförderung, dem eigenen Haus, dem neuen Auto, der ersehnten Reise, geht allmählich über in die Offenheit und die Weite von Hoffnungen, die in Erfahrungen von Hilfe und Rettung gründen: dass es sich zum Guten wende, dass sich doch Licht am Ende des Tunnels zeige, dass Gutes von außen käme, und überhaupt, dass es noch Hoffnung gäbe.
Hoffen lässt offen und baut auf Vertrauen, dass Trauer und Depression sich zurückziehen, dass es Zuverlässigkeit gibt, dass der andere einen nicht im Stich lässt, dass ein Versprechen eingehalten wird, dass es Heilung gibt, dass die alten Verletzungen das Leben nicht beherrschen müssen, dass es Versöhnlichkeit gibt. Älterwerden, das auf Wünschen aufbaut, ist gefährdet und enttäuschungsanfällig. Hingegen Älterwerden, das auf Hoffnung baut, ist nach vorn
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