Lebe lieber innovativ
ausgegangen, dass er sein ganzes Berufsleben lang in einem Hightechunternehmen arbeiten würde. Er hatte zunächst Informatik und im Aufbaustudium dann wissenschaftliche Betriebsführung studiert. Nach dem Studium hatte er eine Stelle als Produktmanager bei einer Firma namens Echelon angenommen. Alles lief glatt: Er wurde im Unternehmen sehr geschätzt und sein Weg schien vorgezeichnet. Doch dann erkrankte eine enge Freundin an Multipler Sklerose . Ihr Zustand belastete ihn so sehr, dass er alles tun wollte, was in seiner Macht stand, um ihr zu helfen. Nach Feierabend und am Wochenende erstellte er eine Internetseite mit dem Titel This is MS. Die Seite bot nützliche Informationen über Multiple Sklerose und deren Behandlungsmöglichkeiten sowie ein vertrauliches Forum zum Erfahrungsaustausch für an MS erkrankte Menschen. Die Seite hatte schnell regen Zulauf, weil die Besucher das dringende Bedürfnis hatten, ihre Geschichten mit anderen zu teilen. Armen merkte, dass er hier den richtigen Nerv getroffen hatte. Er beschloss, eine noch viel umfangreichere Internetseite zu erstellen, auf der jeder seine Erfahrungen anonym weitergeben konnte. Die neue Seite hieß The Experience Project , zu deutsch: Das Projekt Erfahrung , und fand schnell eifrige Nutzer. Nun stand Armen vor einer schwierigen Entscheidung: Sollte er seinen sicheren Arbeitsplatz mit dem sicheren Lohn und einem klar vorgezeichneten Karriereweg behalten oder ins kalte Wasser springen und das Experience Project auf Vollzeitbasis betreiben?
Nach ernsthaften Überlegungen beschloss Armen, sich von den Erwartungen zu befreien, die er selbst und seine Familie an ihn stellten, und sein Projekt zu verfolgen. Es war eine äußerst schwierige Entscheidung, doch inzwischen liegt
sie mehrere Jahre zurück und Armen hat sie nicht eine Minute lang bereut. Sein Geschäft ist zwar harte Arbeit, doch für ihn war es die größte Herausforderung, sich selbst völlig neu zu erfinden. 5
Wir verlassen nun die Hightechbranche, um zu sehen, inwiefern man sich auch in anderen Bereichen über Regeln hinwegsetzen kann, um etwas sehr Wertvolles zu schaffen. In den letzten Jahren hat das Interesse an gastronomischen Betrieben stark zugenommen, die eine völlig neue Sicht auf die Themen Lebensmittel, Kochen und Essen entwickelt haben. Anstatt beim Kochen traditionelle Techniken anzuwenden, experimentiert eine Hand voll Chefköche mit der sogenannten Molekularküche. Das bedeutet, dass sie die Grenzen des Kochens in alle erdenklichen Richtungen ausgedehnt haben. Die betreffenden Restaurants verwenden zum Kochen Utensilien und Materialien, die direkt aus dem Labor stammen, und spielen auf verrückte Art und Weise mit unseren Sinnen. Im Moto 6 in Chicago ist die Küche mit Luftballons, Spritzen und Trockeneis ausgestattet. Ziel ist es, Speisen zuzubereiten, die überraschen und schockieren und trotzdem schmecken. So bietet die Speisekarte im Moto beispielsweise ein »Menü zum Probieren.« Da das Wort »menu« im Englischen sowohl für die Abfolge der Speisen als auch für die Speisekarte selbst steht, bedeutet dies, dass man wirklich die Speisekarte isst, die wie ein italienisches Panini-Sandwich schmeckt. Bei Moto versucht man, mit jedem Gericht gegen die Regeln zu verstoßen. Das beginnt damit, Erdnüsse nicht in Schalen zu servieren, sondern in Versandkartons zu »liefern«, und endet bei einem Dessert, das aussieht wie Nachos, aber aus Schokolade, gefrorenen Mangostückchen und Käsekuchen besteht. Jedes
Gericht soll die Grenzen dessen, wie Speisen in unserer Vorstellung zu sein haben, verschieben. Genau deshalb bringen die Molekularköche unsere Nahrungsmittel auch auf so wundersame Weise in überraschende, neue Formen. Einer der Chefköche, Ben Roche, erklärte, dass es ihr Ziel sei, einen Zirkus für die Sinne zu veranstalten. Sie hinterfragen jede Annahme darüber, wie man bestimmte Zutaten oder Speisen zubereiten und präsentieren sollte, entwickeln ganz neue Kochtechniken und entwerfen individuelles Zubehör, mit dem man die Gerichte verzehrt. Dies ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass man sich wirklich in jedem Bereich von Regeln und Vorgaben befreien kann, die manchmal vielleicht komfortabel sein mögen, uns aber häufig einschränken.
Während eines Treffens mit ein paar meiner ehemaligen und aktuellen Studenten bat ich sie zu erzählen, wie es ihnen bisher gelungen ist, sich in bestimmten Situationen von Erwartungen zu befreien. Nachdem ich mir
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