Leben bis zum Anschlag
vollends von ihrem Unglück ab.
Mehmets Assistenz ist beim Aufbau nicht gefragt, den Eidgenossen reichen Maikas Getränke. Also zieht sich Mehmet zu einer Besprechung mit Leif zurück.
Auf dem Hans-Albers-Platz besetzen Nora und Keath schon mal Plätze vor der Pizzeria und warten auf Mehmet. Sie sitzen sich gegenüber, ihre Hände liegen auf dem Biertisch und drunter pressen sie die Knie aneinander.
»Spitz die Lippen«, flüstert Nora. »Mach schnell.« Sie küsst ihn, ihre Lippen sind kühl, nur ein Hauch, viel zu rasch vorbei.
»Noch mal«, flüstert Keath.
»Nee, wenn er dann gerade kommt, macht das alles nur noch schlimmer.«
»Hundert Euro für’n Kuss.«
»Hör auf! Nicht nerven! Jungs, die jaulen, sind nicht sexy.«
»Ich jaul nicht, ich heul gleich. Ich will ’n Kuss!«
Nora schüttelt den Kopf. »Mit Knutschen fängt es immer an. Komm, lass uns knutschen. Nur knutschen, ich schwör, ich nerv nicht rum. Dann: Ich will dich bloß ’n bisschen streicheln, nicht mehr. Und dann: Zieh das T-Shirt aus, das stört.«
Keath reißt die Augen auf. »Ich würde niemals zulassen, dass du hier auf dem Platz dein T-Shirt ausziehst!«
Der Platz kocht über. Die Leute treten sich dort freitagabends auf den Füßen herum. Nur Mehmet lässt sich nicht blicken.
»Okay, aus Rücksicht auf Mehmet küsse ich dich nicht«, sagt Keath. »Aber ich erklär dir ganz genau, was ich mit dir anstelle, wenn wir das nächste Mal allein sind.«
»Hmmh. Aaaah.« An Noras Unterarm stellen sich ein paar Härchen auf. »Erklär mir erst mal, wo wir allein sein werden. Viele Menschen sind echt einsam und haben niemand, mit dem sie reden können. Aber wir waren bis jetzt bloß allein, als wir uns im Getränkeschuppen eingeschlossen haben. Und da sind die Wände aus Lattenrost, und wenn man die Katzen und Spinnen mitzählt, waren wir auch da nicht wirklich nur unter uns.«
»Okay, gut, stell dir vor, wir sind im Hotel …«
»Bin noch keine sechzehn.«
»Nora! Aber deine Vorstellungsgabe ist schon entwickelt. Du hast doch eine gewisse Vorstellungskraft, oder?«, fragt Keath verzweifelt.
»Ja, schon.«
»Du kannst dir also vorstellen, dass wir beide allein in einem Hotelzimmer sind?« Das klingt zärtlich.
»Vorstellen, ja.«
»Genau darum geht’s. Da ziehe ich dich nämlich langsam aus und küsse jeden einzelnen blauen Fleck von dir weg.«
»Und was mach ich, außer mir das vorzustellen?«
»Du stöhnst und sagst: Ja, ja, ja, hör nicht auf.«
Auf der Bahnhofsuhr ist es 21:57. Mehmet rennt die Treppe zum Bahnsteig hinunter und ist mit einem Sprung im Zug. Keine Sekunde zu früh, denn sofort schließt sich hinter ihm die Tür und der Zug setzt sich in Bewegung. Mehmet fühlt sich, als wäre er gerade noch mal mit dem Leben davongekommen, und wankt ins nächste Abteil. Das ist leer, bis auf zwei Japanerinnen mit Geigenkästen. Sie sitzen nebeneinander, lesen mit tief gebeugtem Rücken in dicken Comicbüchern. Sie blättern von rechts nach links in der japanischen Leserichtung. Mehmet beobachtet sie, das heißt, er starrt sie an. Sie kommen ihm vor wie unwirkliche Manga-Charaktere, die im Zug fahrende Geigerinnen spielen, tatsächlich aber Undercoverkämpferinnen sind. Sicherlich stecken in den Geigenkästen ihre Spezialwaffen. Der Zug rollt über die Eisenbahn-Elbbrücke und Mehmet blickt in Richtung St. Pauli. Er muss weg von hier, raus aus dem Wahnsinn, obwohl gerade von hier aus gesehen Hamburg so überwältigend schön ist, dass die Schönheit der Stadt fast an die von Istanbul herankommt. An den japanischen Mitreisenden zieht sie jedoch unbeachtet vorbei. Vielleicht sind es ja doch Geigerinnen, die in verschiedenen Ensembles spielen und täglich mehrmals die Brücke passieren, sodass sie einfach nicht mehr hinkucken, weil ihnen die Strecke schon langweilig geworden ist? Als er diese Möglichkeit in Betracht zieht, heben beide den Blick und sehen ihn an.
»Er kommt nicht«, sagt Nora.
»Ist auch besser für ihn, wenn er nicht mehr kommt«, sagt Keath wütend, »sonst läuft er direkt in meine Faust. Wegen meiner
freundschaftlichen Verpflichtung diesem Arsch gegenüber hab ich wahnsinnige Kieferverspannungen gekriegt.«
»Wir hätten doch knutschen sollen.« Noras Bedauern wird vom Handyklingeln unterbrochen.
Keath hört eine Serie Jas, die freudiger klingen sollen, als sie es tun. Auch ihr Gesicht sieht nicht wirklich froh aus, als sie sagt: »Mein Tata ist am Bahnhof. Sollte ’ne Überraschung
Weitere Kostenlose Bücher