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Leben bis zum Anschlag

Leben bis zum Anschlag

Titel: Leben bis zum Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Rapp
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sein. Die ist ihm geglückt. Yolanda ist total aus dem Häuschen.«
    »Ich bring dich nach Hause. Ich muss sowieso in den Club.«
    »Heute Nacht können wir nicht ins Hotel. Ich hoffe, dass wir wenigstens morgen schwimmen gehen können«, sagt Nora dumpf. »Ich will und kann mir das nicht vorstellen, aber vermutlich haben meine Eltern Sex, während ich mein Kopfkissen auffresse und weder schlafen noch mich rausschleichen kann.«
    Im Gedränge schieben sie sich Richtung Silbersackstraße. Es wird geschubst, gedrängelt, gejohlt.
    »Und was machst du nach dem Club?«, brüllt Nora.
    Von seiner Antwort versteht sie kein Wort. Sie sind in einem Pulk von Leuten, die in einem kaum verständlichen Dialekt den nächsten Treffpunkt verabreden.
    »Ich schick dir’ne SMS und warte im Park Fiction. Vielleicht ergibt sich ja doch ’ne Gelegenheit.«
     
    Seit dreißig Minuten sind sie unterwegs. Mehmet kommt es wie eine Ewigkeit vor. Die Geigerinnen kucken immer wieder zu ihm hin, tuscheln in einer unverständlichen Sprache miteinander, kichern. Es macht ihn fertig.
    In wenigen Minuten erreichen wir Lüneburg  …, tönt es aus den Lautsprechern. Mehmet springt sofort auf und wartet an der Tür. Das dauert und die Geigenkästen rücken an.

    Hihihi.
    Mädchen sind eine kosmische Fehlkonstruktion, denkt Mehmet und ist richtig dankbar, als endlich die Bremsen kreischen. Der Zug steht, ruckelt noch einmal, steht und bleibt stehen. Mehmet presst den Daumen auf den Türöffner.
    »Tschüs, DJ-Çay.«
    »Ciao, DJ-Çay.«
    Ein Singsang im Duett mit Lachen in den Stimmen wie eine schöne Melodie. Mit offenem Mund stolpert Mehmet aus dem Zug. Er kriegt die Kinnlade nur mit Kraftanstrengung wieder hochgezogen, bevor er sich umdreht und die beiden Japanerinnen anstarrt. Oder sind sie Koreanerinnen, Chinesinnen, vielleicht auch Taiwanerinnen?
    »Wir kennen dich aus dem Sound Club«, sagt die eine.
    Und die andere: »Gibt es schon eine U A-Vol. 5? Du hast Fans in Japan, die warten schon darauf.«
    Mehmet schüttelt den Kopf. Sprachlos.
    »Legst du am Dienstag auf?«
    Nicken, dann krächzen: »Ja.«
    »Super, wir kommen. Eigentlich sind wir schon ein bisschen zu alt, aber wir sind noch nie kontrolliert worden«, grinst die eine.
    »Der Türsteher ist total …«, die andere rollt mit den Augen, »… nett. Also dann bis Dienstag.«
    »Wartet.« Mehmet kramt eine der beiden letzten CDs von Nora aus der Jackentasche. Seine Musik und ihre Lieder sind drauf. »Ich hab echt Fans in Japan?«
    Die Mädchen lachen und nicken.
    »Danke, das ist echt nett von euch, mir das zu sagen.« Mehmet hält ihnen die CD hin und grinst schräg. »Ich hab zwei, aber
ich kann leider nur eine für euch beide und meine Fans in Japan hergeben.«
    »Macht nichts, kein Problem, das ist total süß von dir. Die wird sowieso massenhaft kopiert.«
    Die Mädchen lachen, plänkeln noch ein bisschen herum, dann müssen sie los.
    Mehmet fühlt sich besser. Mit Fans in Japan fühlt sich jeder gleich viel besser, denkt er und macht sich auf den Weg, Hakan zu besuchen, der seinen 21. Geburtstag feiert. Hakan ist sein Cousin, der ältere Bruder von Sami, er studiert Wasserwirtschaft und Bodenmanagement. Hakan ist der Streber der Gündür-Sippe, stets diszipliniert und planvoll. Zwei Tage hat Leif Mehmet freigegeben. Seine Mutter weiß Bescheid, und alle anderen, die was von ihm wollen, hat er mal einfach für die nächsten achtundvierzig Stunden in die Tonne getreten. Die können ihn mal.
     
    Nora fühlt sich wie ein Kind, das mit einem Schritt aus dem Bombenhagel und Wahnsinn des Krieges ins behütete Heim gestolpert ist. Fremdeln ist ein Witz dagegen. Sie muss aus einer ihr fast nicht zugänglichen Erinnerung die Rolle der Tochter zweier Elternteile ausgraben und spielen.
    »Hallo, Tata. Schön, dass du da bist.«
    »Nora, mein großes Mädchen, lass dich anschauen.« Es folgt eine Musterung aus stolz leuchtenden Vateraugen. »Donnerwetter, bist du gewachsen!«
    Es wird gelacht, mit Stühlen gerückt. Alles Essbare kommt auf den Tisch, bis er sich biegt. Und zum polnischen Tischleindeckdich geht der Vorhang auf für die perfekte Inszenierung des oft gespielten Erfolgsstückes:

    Familienglück in der Kleinfamilie
    oder
    Vater, Mutter, Kind
    Regie: Tomasz Lewandowski
    Kostüm und Ausstattung: Yolanda Lewandowska
    Hauptdarstellerin: Priscilla Maria Nora Lewandowska
    Noras Realität und die Vorstellung ihrer Eltern von ihrem Alltag driften derart auseinander, dass Nora

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