Leben bis zum Anschlag
plötzlich bewusst wird, dass sie in einer Zwischenwelt steckt und auf einem dünnen Seil über dem Abgrund tanzt. Schule, Hausaufgaben, Putzjob, Versandhandel und Freunde – alles überschaubar, denken ihre Eltern und glauben, sie hätten erfolgreich einen magischen Schutzwall um ihr geliebtes Kind herum errichtet. In ihrer elterlichen Blindheit können sie den Gedanken nicht im Ansatz zulassen, dass sich Hass, Neid, Eifersucht, Gewalt, Sex, Drogen, Chaos und Kriminalität auch in das Leben ihres Töchterleins hinein Zutritt verschaffen.
Yolanda schwirrt um ihren Baustellengeschichten erzählenden Mann herum. »Fünf Tage Nasebohren am Stück. Wir hätten Rotz verbaut, wenn es als Baumaterial taugen würde. Was anderes war nicht da. Und als klar geworden ist, dass die Fundamentbauer ihre Kohle niemals kriegen werden, sind wir sofort mit allen Maschinen abgerückt.«
Nora reißt sich zusammen, lächelt, füllt kleine Pausen mit kleinen Ausrufen des Erstaunens: »Und dann?«
»Nee!«
»Krass!«
Und währenddessen wird ihr glasklar, dass der Dreck der Welt nicht ihre Erfindung ist und sie aufhören kann, sich dafür schuldig zu fühlen. Yolanda tanzt mit dem neuen Kleidertausch-Kleid
um ihren Gatten herum, und die beiden lachen über Noras verschleierten Ozonloch-Hautschutz-Ganzkörperklamottenstil.
Soll sie die blauen Flecken herzeigen und ihren Eltern erzählen, was Michael Schuhmacher unter Physiknachhilfe versteht? Oder Keath einladen und das Ex-Elternschlafzimmer, aktuell ihr einziger Rückzugsort, mit den Worten hinter sich abschließen: Das ist mein volljähriger schwarzer Freund, wir wollen ungestört sein, ihr bleibt draußen? Oder ihre Eltern auffordern, Glatzen mit Kampfhunden zu beißen? Oder, wenn sie Mehmet sehen, ihn zu schlagen? Ihrem Chef auf die Schulter zu klopfen und ihm Mut zuzusprechen?
Bestimmt könnte sie mit solchen Reden Dampf ablassen. Mehr aber nicht. Die Stimmung wäre hin. Statt mehr Freiheit gäbe es mehr Kontrolle. Was sie dringend braucht, ist eine Position mit einer größeren Distanz zu dem ganzen Scheiß und einem besseren Überblick. Überblick, genau das ist es, was sie am dringendsten braucht.
»Ich geh ins Bett.«
»Was?«, fragen Yolanda und Tata lippensynchron.
»Wollt ihr denn nicht unter euch sein?«
Yolanda kneift die Augen zusammen. »Und was willst du?«
»Ich geh rüber, schreib ein Lied, und um ein Uhr geh ich noch mal raus in den Park, setz mich auf die Treppe und genieße die Sommernacht.«
»Warum willst du die Sommernacht nicht mit uns auf unserem schönen kleinen Balkon verbringen?«, fragt ihr Vater lächelnd.
»Mit euch auf dem Balkon? Ist das dein Ernst? Wie habt ihr mit fast sechzehn eure Abende verbracht?«
Beide sehen aus, als würden sie ernsthaft versuchen, sich an diese Zeit zu erinnern.
»Bestimmt nicht auf dem Balkon, das ist wohl klar. Entschuldigt, falls ich euch den Zahn ziehen muss. Ihr hattet einschlägige sexuelle Erfahrungen, und zwar bevor ihr sechzehn wart.«
Hilfl oses Schweigen, dann steht Tomasz auf, um die Wodkaflasche aus dem Kühlschrank zu holen.
»Ich will mich mit Gleichaltrigen unterhalten«, sagt Nora, als er wieder zurück ist. »Und glaubt mir, die wenigsten müssen um zehn zu Hause sein. Und die, die es müssen, halten sich nicht daran. Mir wäre echt geholfen, wenn ihr mir vertrauen würdet.«
Noras Vater springt auf. »Das glaub ich nicht! Da geh ich lieber auf die nächste Baustelle! Setzt sie dir immer so zu?« Das ist an Yolanda gerichtet.
Die schüttelt den Kopf.
»Also, ich geh ins Bett, schreib ’n Lied, und um eins geh ich noch mal in den Park und genieße eine der wenigen trockenen Sommernächte.« Das tut Nora. Sie lässt ihre Eltern sitzen und haut für Mehmet ein Lied in die Tasten : High Tension.
Einer geht noch, einer geht noch rein!
Einer geht noch, einer geht noch rein!
Hakans Geburtstagspartygäste, bestehend aus seiner Lerngruppe, vier Kerlen und einer Kommilitonin, trinken im fortgeschrittenen Stadium Bier. Stimmung!
»Als Student der Wasserwirtschaft im dritten Semester verrate ich euch jetzt mal das Ergebnis einer geheim gehaltenen Forschung«, lallt Hakan.
»Ich weiß, was jetzt kommt! Ich weiß, was jetzt kommt!«, singt die Studentin.
»Alle, die mehr als drei Liter Wasser am Tag saufen, haben am
Ende von ’nem Jahr über ein Kilogramm Kolibakterien gesoffen! Und das ist …«
»Ein Kilo Scheiße!«, singt das Mädchen.
Mehmet wird übel.
»Trinkst du Bier …«,
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