Leben bis zum Anschlag
mit, bevor der Retter von seiner Kollegin an die Arbeit zurückgepfiffen wird.
Keath trinkt und schüttet sich den Rest ins Gesicht.
»Ist noch was im Becher?«, fragt Nora hinter ihm.
»Nein«, sagt Keath. »Ich warte seit vierzig Minuten auf dich.«
»Nur unter Heulen und Schmerzen hat man mich ziehen lassen.« Sie gibt ihm ihre volle Wasserflasche und erzählt auf den paar Metern zum Anleger vom übertriebenen Schutzbedürfnis ihrer Eltern. »Du bist doch auch Einzelkind, ab wann durftest du denn abends länger wegbleiben?«
»Mit elf hab ich von oben auf meine Mutter runtergekuckt, wenn sie mir Vorschriften machen wollte.«
Nora seufzt. »Hab mir gedacht, dass du besonders rafniert vorgegangen bist. Ich glaub, das mach ich jetzt auch.«
In der überfüllten Fähre nach Finkenwerder stehen die Leute dicht gedrängt auf der Treppe und klagen über die Sonne, die Hitze, die Enge …
Nora schafft es fast bis nach oben zum Sonnendeck, aber dann ist kein Durchkommen mehr möglich. Sie dreht sich um und grinst triumphierend auf Keath hinunter. »Na, mein Kleiner,
spürst du die große Kraft meiner Autorität?«, flüstert sie ihm ins Ohr. Nora genießt die Sonne, die Hitze, die Enge.
»Schlotter«, flüstert Keath zurück.
»Das war toll heute Nacht mit dir im Hotel.« Nora ist beim Liederdichten in ihrem Bett eingeschlafen. Keaths SMS hat sie erst am Morgen beantwortet.
»Oh yes, ich könnte schon wieder einchecken«, schnurrt Keath leise mit lüsternem Funkeln in den Augen.
»Einchecken? Aha.« Noras Lippen streicheln über seine langen Wimpern. »Gut, buchen wir um und gehen nicht ins Freibad. Obwohl wir da ins große Becken eintauchen könnten.« Jedes Wort klingt gleichzeitig unschuldig und doppeldeutig.
»Sei leise.«
»Geil, kühles Wasser, das auf der Haut prickelt.«
Sie bleiben fast eine Stunde im großen Becken. Schwimmen, hängen genüsslich am Beckenrand und genießen es, sich nicht zu verstecken.
»Langsam spür ich, wie das Chlor die blauen Flecken ausbleicht.«
»Noch fünf Minuten und ich bin ein weißer Mann.«
»Gehen wir raus?«
»Ja.«
Zwischen Knutschen und sich gegenseitig Sonne, Wasser und Noras Lichtschutzfaktor 25 von der Haut Lecken verhandeln Nora und Keath in der äußersten Ecke der Liegewiese die Tagesthemen: Sex, Musik, Gewalt, Drogen, Unabhängigkeit, Druck, der nächste UA -Club und natürlich Mehmet, der nicht ans Telefon geht. Bloß Keaths Anmeldung zur ON STAGE SCHOOL wird mit keinem Ton erwähnt.
»Rutsch mal, meine Beine liegen in der Sonne«, murmelt Nora. Einsame und gleichzeitig schattige Plätze sind rar auf der Liegewiese. Keath macht ihr Platz. Sie liegen dicht beieinander, und wenn sie nicht reden, sehen sie sich an.
»Du hast Augen wie ein Teufel.«
»Charmant.«
»Doch, wirklich!«
Nora macht ihre Augen zu und wispert mit Gespensterstimme: »Komm her, Süßer. Ganz nah. Ja, ja, ich tu dir nichts. Vertrau mir. Harr, harr.«
»Hör auf, man kriegt ja Angst«, sagt Keath.
»Was jetzt, Augen auf oder zu?« Nora macht sie auf.
»Das Verrückte ist, dicht bei der Pupille hast du braune Sprengsel, sonst ist die Augenfarbe grasgrün, aber außenrum hast du einen dunkelblauen Rand. Das ist doch nicht normal?«
»Blödsinn. Nora ist die Abkürzung von normal.«
Keath verbirgt in gespielter Fassungslosigkeit sein Gesicht im T-Shirt und zappelt mit den Beinen. »Was?! Deine Teufelsaugen können Normalität gar nicht sehen, selbst wenn man sie dir unter die Nase reibt.«
»Nimm das zurück!« Nora boxt Keath. »Ich will unbedingt mehr Übersicht in meinem Leben. Wenigstens ein bisschen. Das ist mir ernst!«
»Die hab ich immer«, grinst Keath.
»Von oben runterkucken kann jeder.«
»Versteh schon, aber mir ist Übersicht zu nah an Kontrolle. Das kann ich nicht brauchen, beim Tanzen schon gar nicht. Ich will lieber das Spiel, herausfinden, was geht.«
»Und wenn nichts geht?«
»Dann will ich den genialen Fight mit den richtigen Mitteln.«
Das ist Nora suspekt. »Immer bin ich mit ’ner Achterbahn unterwegs. Nie weiß ich, wann die nächste Kurve kommt«, murmelt sie. »Mit einem bisschen Überblick könnte ich vielleicht verhindern, dass ich wen oder was verliere.«
Keath sieht sie skeptisch an.
»Das ist ’ne Illusion, ne?«
»Fürchte ich fast«, sagt er und nimmt sie in den Arm. »Verhindern kann man das nicht.«
Er hat recht, denkt Nora, wenn ich ihn spüre, löse ich mich sofort auf. Mich verliere ich zuallererst.
Track #10
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