Leben (German Edition)
ich hätte die Bundesrepublik gerne untergehen sehen. Die Bundesrepublik ging aber nicht unter, Helmut Kohl mußte nicht nach Argentinien ins Exil, statt dessen ging Honecker nach Chile, und die DDR verschwand, auch nicht schade, andersherum aber hätte es mich damals mehr gefreut.
Katja und ich fuhren also von Bonn nach Köln, der Kran, von dem wir springen wollten, stand auf einem großen, unbebauten Schotterplatz in Chorweiler, Hochhäuser drum herum, keine schöne Gegend, dafür eine mit ganz eigenem Reiz, der Baukran mit Ausleger ragte hundertfünf Meter in die Höhe, in einem Metallkäfig wurden wir hinaufgezogen. Oben angekommen, öffnete sich die Tür, und wir sollten springen. Wir glaubten, sowieso bald sterben zu müssen, der Atomkrieg, der nukleare Ernstfall, wie es hieß, stand ja unmittelbar bevor. Und da wir relativ sicher waren, daß die ganze Menschheit sich bald ausgelöscht haben würde, konnten wir ruhig schon mal mit der Selbstauslöschung anfangen. Sich den Atomtod, die Apokalypse und den nuklearen Winter auszumalen war einfacher, als sich Zukunft vorzustellen, welche denn bitte, es gab ja keine. Daß alles, was uns umgab, bald nicht mehr dasein würde, dieser Gedanke beruhigte und hatte etwas Tröstendes: Das alles war also gar nicht so wichtig, wir waren ja eigentlich schon tot, sieben-, acht-, neun-, zehnmal tot, wie hoch war der nukleare Overkill? Später hat sich dieses Gefühl verloren.
Und dann der Sprung. Daß wir dafür beide je hundert Mark bezahlten, damals sehr viel Geld, verstand niemand, dem wir davon erzählten, Drogen aber, sagten wir uns, waren ja auch nicht billig. Ich ließ mich fallen, keine Ahnung, wer oder was in mir sich dazu entschloß, vielleicht, der Gedanke kommt mir erst jetzt, bin ich Katja auch bloß hinterhergesprungen. Sie träumte davon, Terroristin zu werden, sie verabscheute Helmut Kohl noch mehr als ich und überraschte immer wieder mit neuen Attentatsplänen, sie wollte versuchen, ihn für ihre Schülerzeitung zu interviewen, wollte an einer Ampel vor dem Bundeskanzleramt zu ihm ins Auto steigen und ihn bei dieser Gelegenheit ermorden – und ich fiel. Ich fiel, und ich flog, ich flog durch die freieste Sekunde, die ich bis dahin erlebt hatte, ein Adrenalinstoß, wenn ich nur daran denke.
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Ich schaue nach Süden, bis zum Fußende meines Bettes, die Decke ist hochgerutscht, ich sehe meine Zehen und zähle sie, als müßte ich überprüfen, ob noch alle da sind. Ich bin erleichtert, keiner ist mir abgefallen. Vor langer Zeit, erinnere ich mich, waren sie einmal blau lackiert. Ich zähle die Zehen ein zweites Mal und stelle mir vor, draußen liege der Pazifik und ich sei in einem Hotelzimmer in Acapulco wie im Jahr 1996 oder 1997, was hatte ich da wohl genommen? Eine Nacht und einen Tag lang kurvte in mir der Gedanke: Was hat das alles denn für einen Sinn, wenn ich ja doch jetzt sterben muß? Wozu bin ich dann überhaupt da? Wozu ist ein Mensch überhaupt da? Jeden Tag in all den Jahren habe ich ausgehalten, nur um in einem Hotelzimmer, ausgerechnet in Acapulco, zu sterben? Dabei war mir eigentlich klar oder hätte mir klar sein müssen, daß ich in dieser Nacht, niemand wußte, wo ich war, bestimmt nicht sterben würde, so schnell stirbt es sich nicht, mir war bloß heiß, und ich schwitzte und hatte großen Durst, gegen den kein Trinken half. Es war wohl mehr die Idee, die mich so beunruhigte und zugleich faszinierte, die Idee, daß ich am Pazifik sterben könnte. So weit weg.
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Meint nicht fast jeder, schon mal fast gestorben zu sein? Das ist keine exklusive Erfahrung, im Gegenteil, es scheint zum Erfahrungsschatz eines jeden Erwachsenen oder Halberwachsenen zu gehören, mindestens einmal schon um ein Haar gestorben zu sein. Ist das vielleicht ein Zeichen des Erwachsenseins?
Und es stimmt ja, meistens jedenfalls. Fast ein jeder ist schon beinahe überfahren worden, beinahe ertrunken, in einer großen Welle am Strand, in einem Fluß, beinahe wäre das Flugzeug, in dem er saß, abgestürzt oder mit einem anderen kollidiert. Selbst zu Friedenszeiten ist Leben im Rückblick bloß Überleben – ein Wunder, daß all die Menschen rings um einen herum noch da sind, beinah wären sie alle schon gestorben. Fast jeder hat so eine Geschichte zu erzählen, und viele halten es für ein großes Glück, überlebt zu haben, bis zu diesem Satz, jetzt, hier. Einmal über die Straße, ohne nach links und rechts zu schauen, einmal beim Fensterputzen nicht aufgepaßt,
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