Leben (German Edition)
einst gewesen sein muß, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als die ersten Röntgenbilder aufgenommen wurden und der menschliche Körper, das per se Dunkle, sich auf einmal durchleuchten ließ, das Nichtdurchsichtige durchsichtig wurde.
Die Röntgenärztin, deren Gesicht ich gar nicht richtig wahrgenommen habe, hantiert an dem an der Decke montierten Gerät herum, verändert Einstellungen am Schwenkarm mit Kamerakopf, wie ein Industrieroboter ragt der in den Raum. Ich fürchte es nicht wirklich, stelle mir aber vor, daß dieser Arm sich selbständig machen und uns beide, die Ärztin und mich, mit höchster Strahlendosis auf Dauerfeuer erledigen oder auch einfach erschlagen könnte. Zu dem Keimdrüsenschutz reicht die Radiologin mir noch eine Bleischürze – all diese Schutzrüstungen erinnern mich daran, wie gefährlich es ist, sich röntgen zu lassen. Röntgenstrahlen sind Todesstrahlen, muß ich nun denken, und die Bilder, diese seltsamen, halbtransparenten Folien, werden mich gleich als das Gespenst zeigen, das ich vielleicht schon bin, ja, Röntgenbilder müssen so etwas wie vorweggenommene Totenbilder sein, verraten sie in all ihrer diffusen Deutlichkeit doch, was eigentlich erst nach der Verwesung zu sehen wäre. Wenn überhaupt.
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Einmal, erinnere ich mich, ich war fünf, fast sechs Jahre alt, bin ich beim Rollschuhfahren gestürzt, ich rutschte nach hinten weg und fiel auf den rechten Arm, der dabei abknickte. Ich rollte nach Hause, um den Arm, er tat inzwischen weh, meiner Mutter zu zeigen. Sie schickte mich in den Keller, ein kurzes Brettchen holen, so lang, sagte sie und hielt ihre beiden Handflächen etwa zwanzig Zentimeter auseinander. Ich wußte nicht, was sie damit wollte, brachte ihr aber eines dieser Brettchen, wir hatten Hunderte davon im Heizungskeller liegen, Abschnitte von den Profilholzleisten, mit denen die Wände in der Sauna und im Spielkeller verkleidet worden waren, sie warteten darauf, nach und nach im Kamin verfeuert zu werden. Meine Mutter legte meinen rechten Unterarm auf das Brettchen und umwickelte beides mit einer Mullbinde. Als die erste Mullbinde abgerollt war, wickelte sie mit einer zweiten weiter, so schiente sie mir den Arm. Dann nahm sie die Autoschlüssel vom Schlüsselbord, ging mit mir zu ihrem Wagen, schnallte mich, was ich einarmig nicht mehr konnte, auf der Rückbank an und fuhr mit mir zum Röntgenarzt, dessen Praxis gleich neben meiner späteren Schule lag. Schüler, die sich im Sportunterricht verletzten, hatten es nie weit dorthin, von der Turnhalle waren es nur ein paar Schritte. Bloß verstaucht, so lautete die Diagnose in den meisten Fällen, an diesem Abend jedoch hieß es, mein Arm sei gebrochen. Ich bekam einen Gips und trug ihn drei Wochen; im ersten Moment fühlte es sich feucht und warm an auf der Haut, später juckte es nur noch.
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Und schon wieder kommt ein Tablett mit Essen. Entweder warte ich ungeduldig und viel zu lange, oder es kommt zu früh. Sich über das Essen zu beklagen gehört zur Krankenhausfolklore, zu sagen, das hat aber gut geschmeckt, ist für die Schwester eine solche Sensation, daß sie es gleich in die Küche hinuntertelefonieren möchte. Sie sagt: Da freut sich der Koch, so was hört der nicht alle Tage.
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Später heißt es wieder: Zur Waage, wiegen Sie sich, Herr W., gehen Sie doch bitte zur Waage.
Will ich ja, würde ich ja, aber der Weg zur Waage ist so weit, ich schaffe das nicht. Behaupte ich, dabei bin ich bloß zu faul.
Zur Waage zu gehen, jeden Morgen, das ist meine Aufgabe, dazu bin ich verdonnert. Allerdings habe ich längst durchschaut, daß es den Schwestern nur darauf ankommt, mich zu mobilisieren. Es gilt, die Patienten so früh wie möglich zu mobilisieren. Wieviel ich wiege, interessiert gar nicht so sehr.
Und wieder nicht zugenommen.
Und dann liege ich auf meinem Bett, denke in mir herum und einmal quer hindurch. Und verirre mich in mir.
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Die Nachtschwester wünscht gute Nacht, ich aber weiß schon, daß ich wieder lange nicht einschlafen werde. Mein Bettnachbar stöhnt, wälzt sich aus dem Bett, steht auf und wankt zur Toilette, acht- oder neunmal in der Nacht, was mich jedoch nicht stört. Ich liege nicht mehr hier im Bett, ich sitze in einem Nachtbus, der auf einer Straße durch Mexiko rollt, auf dem Weg nach Mazatlán in Sinaloa, eine Hafenstadt am Pazifik, Glorias Großvater wohnte dort, in einem luftigen, leicht heruntergekommenen Haus aus den dreißiger Jahren, gleich am Meer. An den Wänden im
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