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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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einmal im Auto die Augen zugemacht, für ein paar Sekunden, und es ist vorbei, Bäume oder Brückenpfeiler stehen überall.

51
    Zum Beispiel Julia. Daß sie noch lebte, war ein Wunder, und sie teilte das auf geheimnisvolle, unbewußte Weise mit. Vom Kiffen beim Zelten mit dreizehn war sie übers Kokain zum damals viel zu leicht verfügbaren Heroin gekommen. Sie hatte es einfach wissen wollen, sie hatte gesucht, und Heroin war die große, die größte Erfüllung gewesen, es gibt nichts Größeres, gegen Heroin ist alles klein, danach kann nichts mehr kommen, nur noch mal Heroin. In ihrer schlimmsten Zeit schlief sie ein halbes Jahr in einem offenen Keller und fuhr tagsüber Straßenbahn, von einer Endstation zur anderen, selbstverständlich ohne Fahrschein, die Kontrolleure fragten sie schon nicht mehr, wußten längst, daß sie keinen Fahrschein hatte, wußten, daß es zwecklos gewesen wäre, sie darauf anzusprechen oder die Sache gar weiterzuverfolgen, eingesperrt worden wäre sie für ihr Schwarzfahren sowieso nicht. Vielleicht, sagte sie, hatten sie auch einfach Mitleid mit dem Junkie, der sie war.
    Für ihren damaligen Freund stand sie bei Einbrüchen Schmiere, und sie half ihm, Diebesgut abzutransportieren, zwei- oder dreimal waren es Häuser, in denen frühere Mitschülerinnen mit ihren Eltern wohnten, Häuser, in denen sie schon einmal gewesen war, eventuell wußte sie sogar, wo ein Schlüssel für den Kellereingang lag – was einen Einbruch sehr vereinfachte. Teile der Beute, die meist gar nicht auf einmal abtransportiert werden konnte, versteckten sie in einem Gebüsch, später mußte sie wieder Trenchcoat und Seidenschal anziehen und, verkleidet als die höhere Tochter, die sie eigentlich ja war, nachsehen, ob ihnen nicht einer in die Quere kam.
    Irgendwann lag sie nach einer Überdosis mit anschließendem Herzstillstand im Krankenhaus, um ein Haar, erzählte sie, sie hat das oft erzählt, wäre ich gestorben. Vier Tage lag sie auf der Intensivstation, dann aber, am fünften Tag, zog sie sich die Infusionsnadeln aus der Vene, mit Nadeln und Venen kannte sie sich aus, stand auf und verschwand, nicht ohne aus einem der offenen Schränke in einem der anderen Zimmer noch ein Portemonnaie mitzunehmen. Sie wußte, daß niemand ihren richtigen Namen kannte, Papiere hatte sie keine, und bis dahin war es ihr gelungen, so zu tun, als erinnere sie sich nicht daran, wie sie hieß. Sie hatte keine Krankenversicherung mehr und wollte vermeiden, daß ihre Eltern für diesen Krankenhausaufenthalt würden aufkommen müssen, eine zweifelhafte Rücksicht, hatte sie deren Konten doch schon mehrfach mit gefälschten Schecks geplündert. Eigentlich wollte sie bloß raus, sie brauchte Stoff.

52
    Ganz anders ich mit meinen Anfällen von Selbstmitleid, meist nach dem Besuch der Spezialsprechstunde im Krankenhaus. Die Krankheit, von der ich sonst nicht viel oder gar nichts wissen wollte, an die ich nicht einmal dachte, wenn ich, völlig automatisiert, morgens, mittags und abends meine Medikamente nahm, stand dann plötzlich ganz groß da, unübersehbar. Ein-, zwei- oder dreimal im Jahr kam sie mit aller Gewalt zurück, baute sich auf und brachte die Einsicht, die Gewißheit: Ja, du wirst sterben, früher oder später, vielleicht in ein oder zwei Jahren, vielleicht auch erst in vier oder fünf. Vier Jahre aber sind keine lange Spanne mehr, die Zeit zwischen zwei Fußballweltmeisterschaften – früher, als Kind, eine kleine Ewigkeit – geht inzwischen schnell vorbei.
    Mir ist, als schaute ich an diesen Tagen des Selbstmitleids hinter die Unsterblichkeitsfiktion, hinter den Vorhang, der vor dem Abgrund links und rechts von allem hängt: Eines Tages ist es aus, die Erde bekommt uns wieder, sie dreht sich trotzdem weiter, auch ohne uns.

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    B. hat mir immer vermittelt, es sei gar nicht so schlimm. Explizit hat er es nie gesagt, seine Botschaft aber war: Es geht dir, es geht Ihnen – irgendwann fing er an, mich zu siezen – noch ganz gut. Und mir ging es gut. Ich habe gemacht, was ich wollte, bin um die halbe Welt und in den Urwald gereist. Ich mußte bloß genügend Medikamente bei mir haben.

54
    Vom Bett aus sehe ich das Kraftwerk am Kanal mit seinen Schornsteinen im Himmel, ich zähle sie, es sind noch immer vier. Ich könnte aufstehen, müßte bloß den Tropf abklemmen. Ich könnte aufstehen, mir den Bademantel überziehen, hinaus auf den Flur gehen, mit dem Aufzug hinunterfahren und den Ausgang suchen. Ich könnte das

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