Leben (German Edition)
Klinikgelände durch den Südausgang verlassen, die Straße überqueren und auf die Föhrer Brücke oder auch bloß ans Ufer spazieren und mich ins Wasser stürzen. Ich könnte – ja, das Wasser ist kalt genug, in kaltem Wasser geht es schnell, dann aber fällt mir das Kind wieder ein, das morgens, wenn es aufwacht, immer lacht und so sehr da ist, für die Tochter sollte ich, ja möchte ich noch ein paar Jahre bleiben. Trotzdem, ich weiß nicht, warum, wäre ich heute lieber tot. Oder ein Regenwurm. In meinem nächsten Leben möchte ich einer sein.
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Immer wieder höre ich: Sie müssen trinken, sehr viel trinken. Trinken wird im Krankenhaus zur Aufgabe. Haben Sie getrunken? Wie viele Becher? Die Anzahl der Becher wird notiert. Einmal in der Woche muß ich dann vierundzwanzig Stunden lang abmessen und aufaddieren, wieviel Flüssigkeit aus mir herausfließt, hier wird Buch geführt über jeden Tropfen Urin, jeden Stuhlgang, jede Temperaturveränderung. Die Mappe, in der das alles festgehalten wird, heißt Kurve .
Schwestern und Pfleger spulen immer gleiche Kommunikationsroutinen ab, wieder und wieder läuft dasselbe Stück in wechselnder Besetzung, alles wurde so schon tausendmal gesagt, aufgeführt und wiederaufgenommen, das Stück, keine Änderung auf dem Spielplan, heißt «Station 22». Temperatur, Blut, Stuhl, jeden Morgen höre ich: Sie haben aber schöne Venen, da stechen wir doch gerne. Nur zu, stechen Sie doch, bitte, meine Arme gehören Ihnen. Am Abend, die diensthabende Ärztin hat leider nicht richtig getroffen, sitzt ein blaues Taubenei in meiner Armbeuge. Ich weiß schon, tut es beim Einstich nicht weh, ist schlecht gestochen worden.
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Das Krankenhaus ist ein Geschichtenhaus, immer wieder neue Geschichten, jeder Patient bringt eine mit. Also höre ich zu, was bleibt mir auch anderes übrig, und lausche den mit der Zeit unaushaltbar werdenden Leidensgeschichten, was ich habe, wie ich leide, wo ich damit schon gewesen bin, was die Ärzte gemacht, was sie nicht gemacht und was sie falsch gemacht haben. Und wer dann doch geholfen hat. Ich höre den Patientenchor, den Chor der Transplantierten: Ich hatte schon zwei Bauchspeicheldrüsen – ich habe jetzt meine dritte Niere, meine erste Niere hielt zwei Jahre, die zweite einen Monat, jetzt die dritte, wenn es diesmal nicht klappt, mache ich Schluß, keine Dialyse mehr, nie mehr Dialyse, das habe ich mir geschworen – ich hatte eine Wanderniere, die war ein Klumpen unter meinem Nabel – ich bin zum neunten Mal hier und war schon zweimal tot, der Krebs hat sich durch die Bauchspeicheldrüse gefressen, und dann haben sie mir die halbe Leber weggeschnitten – mich haben sie schon viermal aufgemacht, die Wunde will nicht heilen – morgen komme ich raus – vielleicht komme ich übermorgen raus, übers Wochenende werden sie mich wohl nicht dabehalten – vielleicht darf ich nächste Woche nach Hause – eine Woche vielleicht noch – noch zwei oder drei Wochen – noch ein paar Tage. So höre ich sie singen und singe selbst, das bleibt nicht aus, längst mit. Ich kann bald alle Strophen.
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Und, was hat dich hierhergebracht? Komm, neuer Bettnachbar, erzähl mir deine Geschichte. Und meine eigene, wie geht die? Was, wenn sie hier zu Ende ist? Plötzlich, ich liege ja bloß herum und habe Zeit, viel Zeit, darüber nachzudenken, sehe ich von hier aus so etwas wie ein Leben. Mußte es erst fast vorbei sein, um das zu bemerken?
Dem neuen Bettnachbarn könnte ich auch eine ganz andere Lebensgeschichte erzählen, in zwei, drei Sätzen, schnell zusammengefaßt. Dem nächsten Bettnachbarn, wenn er denn fragt, erzähle ich wiederum eine andere. Und danach, beim übernächsten Mal, auch.
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Eine Schwester kommt ins Zimmer und sagt, ich müsse zum Röntgen. Schon wieder? Wurde ich nicht schon oft genug durchleuchtet? Haben die Ärzte mich noch immer nicht durchschaut? Die Mottenfraßnekrose? Die portale Hypertension? Der Transport schiebt mich aus dem Zimmer über den Flur in den Aufzug hinein, es geht ins Untergeschoß und durch schwachbeleuchtete Gänge zur Radiologie.
Im Röntgenraum reicht die Ärztin mir einen Hohlkörper aus gummiartigem Kunststoff und sagt, ich solle ihn über meinen Hodensack stülpen. Stopfen Sie aber nur die Hoden rein, sagt sie und läßt mich machen, die Keimdrüsen werden so vor den Strahlen geschützt. Ich glaube ihr, ich muß ihr glauben da auf dem Tisch im Halbdunkel, und mich überfällt eine Ahnung davon, wie sensationell es
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