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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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Arbeitszimmer, und eine Stimme sagt, Herr W., wir haben ein passendes Spenderorgan für Sie. Auf diesen Anruf habe ich gewartet, diesen Anruf habe ich gefürchtet. Das Kind ist nicht da und soll erst am Wochenende wiederkommen, ich habe schon gegessen, müßte also nicht hungrig ins Krankenhaus und habe sonst nichts weiter vor. Die Sonne scheint, und ich denke, ach, wie gern würde ich noch ein wenig bleiben, ein paar Jahre vielleicht. Und sage: Ja, und die Stimme antwortet, sie schicke jetzt den Krankenwagen los.
    Vier Minuten später stehe ich unten vor dem Haus und warte. Es gibt freie Parkplätze, die Stadt ist leer, Sommerferien in Berlin, es ist heiß. Ich schaue zu den Blumenkübeln, in denen es blüht, und auf das Pflaster, ich sehe den Schmutz in den Ritzen zwischen den Gehwegplatten und die Tische vor dem Café auf der anderen Straßenseite. Vor einer Stunde ungefähr, mir kommt es vor, als wären Jahre vergangen, habe ich dort gegessen, die Bedienung winkt, wir kennen uns.
    Neben mir steht die braune Reisetasche, wahllos habe ich ein paar Sachen hineingeworfen, es stand nicht alles neben der Wohnungstür bereit – obwohl ich wußte, daß der Anruf immer kommen konnte, jederzeit, hatte ich nicht mit ihm gerechnet. Vielleicht wollte ich nicht mit ihm rechnen, die Hausschuhe, das wird mir noch auffallen, habe ich jedenfalls vergessen. Als die Physiotherapeutin mich drei Tage später zwingt, zum ersten Mal wieder aufzustehen – Aufstehen ist das Wichtigste, sagt die Ärztin –, trage ich, was ziemlich komisch aussieht, Gummihandschuhe an den Füßen. Ich muß selbst darüber lachen, zu lachen tut allerdings weh.

    Ich erinnere mich, daß ich ein anderes Mal noch weniger vorbereitet gewesen bin. Ich wechsle von einer Gehwegplatte auf die andere, gehe ein wenig auf und ab und muß, ob ich will oder nicht, doch daran denken, daß mein Telefon schon einmal geklingelt hat, in einer Winternacht mit Glatteis, gegen vier Uhr früh, das Kind schlief nebenan in seinem Zimmer. Noch nicht richtig wach, hob ich ab und hörte eine Stimme den gleichen Satz sagen, den ich eben gehört habe: Herr W., wir haben ein Spenderorgan für Sie. Woraufhin ich antwortete, ich mußte überhaupt nicht überlegen: Nein, lieber nicht. Lieber nicht, dachte ich, denn ich müßte das Kind ja wecken, und wie sollte ich ihm erklären, daß ich ins Krankenhaus muß, mitten in der Nacht? Dabei hätte ich doch die Nachbarin oder die Mutter meines Kindes herausklingeln können.
    Am nächsten Vormittag rief ich im Transplantationsbüro an und fragte, ob ich das Telefongespräch geträumt hätte. Ich wußte nicht mehr, ob ich es geträumt hatte oder nicht, oder ich wollte mir einreden, es nicht mehr zu wissen. Zu glauben, daß ich diesen Anruf nur geträumt hatte, schien mir jedenfalls eine gute Ausrede zu sein, denn natürlich wußte ich, daß ich hätte ja sagen müssen. Wann passiert es schon, daß einem die Verlängerung des eigenen Lebens angeboten wird? Ich erfuhr, daß mein Telefon tatsächlich geklingelt hatte. Nach meinem Nein hatte sich ein anderer Wartepatient gefreut.
    Ich telefonierte dann auch mit B. und erzählte ihm, was ich ausgeschlagen hatte. Vorwürfe hörte ich keine, er riet mir allerdings, nicht noch einmal abzulehnen. Ich entschied mich, auf der Warteliste zu pausieren, die bis dahin aufgelaufene Wartezeit würde mir nicht verlorengehen.
    Vier oder fünf Monate später platzten die Varizen.

    Nun warte ich schon drei oder vier Minuten auf den Krankenwagen. Noch könnte ich verschwinden, denke ich, einfach verschwinden und das Telefon ausschalten. Eine Frau, die zwei Häuser weiter wohnt, schiebt ihr Rad mit einem leeren Kindersitz auf dem Gepäckträger vorbei, wir lächeln uns an. Ich suche mein Telefon, finde es in meiner hinteren Hosentasche, aber statt es auszuschalten, rufe ich das Transplantationsbüro zurück, frage, wo der Krankenwagen bleibt. Ist sicher gleich da, versucht die Stimme mich zu beruhigen. Dann, da ich das Telefon nun schon in der Hand habe, schreibe ich eine SMS und schicke sie an die Freunde, von denen ich mich im Fall des Falles verabschiedet haben möchte. Ich tippe: Komme jetzt ins Krankenhaus, für neue Leber, tatsächlich aber sende ich, das sehe ich ein paar Wochen später, als ich die Nachricht in meinem Telefon wiederfinde: Komme jetzt ins Krankenhaus, für neue Leben .
    Ich telefoniere, bis der Krankenwagen ganz sommermüde, komm, süßer Tod, herantuckert. Die Beifahrertür öffnet sich,

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