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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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dritten Atemzug höre ich Reifenquietschen. Wer aber atmet da so laut? Muß ich noch atmen? Bin ich nicht unter Wasser? Das Quietschen wird ein Sample sein, es läuft auf Schleife, immer wieder, bei jedem dritten Atemzug.

96
    Später, vielleicht auch früher, davor oder danach, wird es vor dem Fenster, ja, das ist wohl ein Fenster, wieder hell. Das Lichtermeer verlöscht, ich sehe ein Stück Himmel. Ach, ich bin da, wie schön. Ich kann eine Hand bewegen. Und höre eine Ente.

97
    Lassen Sie doch bitte das Tier hinaus, möchte ich zu dem Mann im Zimmer sagen, ich nehme an, es ist ein Pfleger. Ich möchte die Ente nicht in meinem Zimmer haben, will ich sagen, kann allerdings nicht sprechen, ich habe keine Stimme. Ich höre die Ente sehr deutlich, sie hat sich bloß versteckt. Sehen Sie doch bitte unter dem Bett nach, möchte ich sagen, da sitzt sie, ich höre sie quaken, durch die Geräusche der Geräte, sie spricht mit mir. Sie spricht, warum auch nicht, spanisch.

98
    Eine Frau in einem sehr weißen Kleid, die weder Schwester noch Ärztin sein kann, sitzt auf meinem Bett. Sie sieht aus dem Fenster und hat noch nicht bemerkt, daß ich die Augen geöffnet habe. Aus einem Kaffeebecher in ihrer Hand, einem Becher aus Pappe mit Deckel, nimmt sie einen Schluck, dann dreht sie den Kopf und schaut in meine Richtung, scheint mich aber nicht zu sehen. Ich weiß nicht, ob sie wirklich da ist. Doch, sie ist da, denn ich spüre ihre Hand, erst auf dem Schienbein, dann auf dem Knie.
    Aber wer ist sie bloß. Sind wir uns vielleicht schon mal begegnet? Verbindet uns etwas, müßte ich mich jetzt erinnern? Habe ich nicht ein Kind, an das ich jetzt denken sollte? Was wird die Tochter zu dieser Frau sagen, die nicht ihre Mutter sein kann? Sie wird nun bleiben, so verstehe ich ihre Berührung, allerdings hat sie noch kein Wort gesagt, und im Gegenlicht vor dem Fenster kann ich sie kaum erkennen. Sie lacht und schaut sehr ernst dabei, sie ist blond und hat kohlrabenschwarzes Haar.

99
    Ach, ich darf schon wieder essen, denke ich staunend, als die Schwester ein Tablett mit Frühstück bringt. Sie schmiert mir Butter und Sauerkirschmarmelade aus einem Portionspäckchen auf eine getoastete Weißbrotscheibe. Ich lerne, daß sich auf einem getoasteten Weißbrot deutlich weniger Keime befinden als auf ungetoastetem Weißbrot. Die Krankenschwester lacht und schneidet das Brot in schmale Streifen, die mich sehr an die Marmeladenbrotstreifen erinnern, die ich sonst dem Kind zubereite. Hier bin ich das Kind.
    Lange hat mir nichts so gut geschmeckt. Ich lebe noch, und ich kann essen. Was für ein Glück. Die Marmeladenreste lecke ich aus der Packung.

100
    Der Blutdruck wird in der Arterie gemessen, invasiv im rechten Arm; die Manschette um den Oberarm, die sich jede Viertelstunde aufbläst, bleibt mir erspart. Ich habe einen zentralen Venenkatheter mit drei oder vier angehängten Schläuchen am Hals, habe einen Blasenkatheter, eine T-Drainage und eine Wunddrainage. Sauerstoff, süßer Sauerstoff, dringt durch den kleinen Schlauch, der unter meiner Nase klebt, gluckernder Waldbach, ich kenne das ja schon.

101
    Ich schlafe ein, wache wieder auf und wundere mich über den ungewohnt rot-grau-violetten Himmel. Er leuchtet, als wäre dieser Abend ein Abend auf einem anderen Planeten. Die Ente quakt Bestätigung, bewegen kann ich mich nicht. Trotzdem kommt eine Physiotherapeutin, sie zwingt mich, aufzustehen und drei Schritte zu gehen. Drei Schritte bis zum Abgrund. Sie hält mich, zieht mich zurück und hilft mir wieder ins Bett.

102
    Die Apparate im Zimmer arbeiten für mich. Oder arbeite ich für die Apparate? Arbeitet dieser Körper, der da liegt, dieser Körper, in dem ich offenbar stecke, für die Apparate? Die Möglichkeit, daß ich es bin, der all die Geräte antreibt, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Natürlich, beginne ich zu phantasieren, deshalb wird der ganze Aufwand ja betrieben! Ich soll angezapft, ausgesaugt und verwertet werden.

103
    Die blonde Frau mit den kohlrabenschwarzen Haaren liegt neben mir, die Schwestern und Pfleger in meinem Zimmer übersehen sie geflissentlich. Ich vermute, sie tun mir einen Gefallen: Kaum vorstellbar, daß es erlaubt ist, hier mit einer Frau im Bett zu liegen. In diesem Bett ist es trotzdem nicht eng, La Flaca scheint nicht viel Platz zu brauchen. Sie küßt mich, also ist sie wirklich da.

Die Transplantatfunktion war von Beginn an hervorragend, dopplersonographisch konnte eine regelgerechte Funktion

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