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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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ein Mann, der alle Zeit der Welt zu haben scheint, steigt aus, dreht sich zu mir und begrüßt mich mit der Frage, ob ich zuzahlungsbefreit sei, wenn nicht, dann hätte er gern erst einmal fünf Euro. Erst danach legt er seine Hand auf den Griff der Schiebetür und zieht sie auf. Ich steige ein und finde einen verknitterten Fünf-Euro-Schein in meinem Portemonnaie, mit ihm kann ich dem Fährmann die Überfahrt bezahlen. Das Boot legt ab, beschleunigt nur verhalten, und ich will wissen, ob es eventuell ein wenig schneller gehe, mir sei Blaulicht versprochen worden. Von Blaulicht stehe in ihrer Anweisung nichts, sagt der Fahrer, keine Sorge, sind ja Ferien, ist ja kaum Verkehr.
    Auf meinem Schreibtisch und der breiten Fensterbank in meinem Arbeitszimmer liegen Zettel, auf denen steht, was ich alles längst erledigt haben wollte. Seit über drei Monaten wollte ich ein Regal für das Kinderzimmer bestellen, ich wollte eine Lampe montieren, den Kühlschrank abtauen, ich wollte spülen und zum Frisör gehen, morgen oder übermorgen. Jetzt fällt mir ein, bei wem ich mich diese, nächste, übernächste Woche hatte melden wollen und wem ich schon Wochen, Monate, Jahre nicht auf Briefe geantwortet habe, obwohl ich es vielleicht versprochen hatte. Ich wollte auch immer ein ordentliches Testament machen, die mittlere Schreibtischschublade aufräumen, die Papierhaufen hinter dem Schreibtisch sortieren und an Rebecca schreiben, seit ein paar Jahren schon. Ich denke schon wieder nicht daran, daß sie ja nicht mehr lebt.

    Der Krankenwagen fährt ins Virchow, ich kenne die Strecke, bin sie schon oft gefahren. Die Bernauer hinunter, dann rechts durch Gesundbrunnen, der Fahrer steuert die Graunstraße entlang – es ist der gleiche Weg, den der Rettungswagen genommen hat, vor über einem Jahr. Damals stellte ich mir vor, der Wagen hätte gar kein Dach, malte mir aus, mit abgeschossenem Verdeck durch Flandern zu fahren, vielleicht wegen des Kopfsteinpflasters, über das wir auch heute rollen, durch die sommerleere Stadt, bis der Fährmann schließlich anlegt, mein Boot hält in der Auffahrt vor Haus 4.
    Der Beifahrer steigt aus, öffnet mir die Schiebetür und begleitet mich nicht nur bis zum Aufzug, er fährt mit mir hinauf in den siebten Stock, bringt mich bis zur Pforte der Station. Er soll mich abliefern, so sein Auftrag, alleine könnte ich es mir im Aufzug ja noch anders überlegen oder mich im Haus verlaufen, wer weiß. Eine freundliche Schwester begrüßt mich und verabschiedet den Fahrer, ich muß, die Verwandlung beginnt, einen blaßgelben Schutzkittel überziehen: Wer hier eintritt, soll keine Krankheitserreger verbreiten.
    Die Schwester führt mich in ein Zimmer mit großem Fenster nach Osten, die Sonne scheint, ich sehe den Humboldthain, seine beiden Flaktürme, das Linsenhochhaus an der Brunnenstraße, die Flutlichtmasten des Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportparks, ja ich sehe sogar die Dächer der Straße, in der ich wohne. Vier oder fünf Personen in Keimschutzkitteln wuseln um mich herum. Eine von ihnen nimmt mir Dinge ab, die ich nun nicht mehr brauche, meine Brille, die Uhr meines Vaters, mein Portemonnaie, das Telefon. Während ich mich ausziehe, beantworte ich die üblichen Fragen: Seit wann besteht die Grunderkrankung, wann wurde zuletzt Blut abgenommen, hat sich an Ihren Daten etwas geändert, stimmt die Anschrift noch, wen sollen wir benachrichtigen, falls, tragen Sie eine Zahnprothese, ich schüttele den Kopf. Dann unterschreibe ich alle Blätter der Einverständniserklärung, gehe noch einmal auf die Toilette und ziehe ein OP-Hemd an. Blut wird mir abgenommen, und Blut wird bestellt, ein zentraler Venenkatheder und ein arterieller Blutdruckmesser werden gelegt, Bauchdecke und Brustkorb mit einer gelb-grünlichen Flüssigkeit desinfiziert, Elektroden aufgeklebt. Es ist noch gar nicht so lange her, daß ich gegessen habe, sage ich. Na, wenn’s kein Schweinebraten war, höre ich den Arzt flachsen und fühle mich plötzlich auf sonderbar endgültige Weise wohl, von mir aus könnte es jetzt überallhin gehen, meinetwegen auf einen anderen Planeten. Werde ich vielleicht, ich hoffe ein wenig darauf, eingefroren, um erst in ein paar Jahren wieder aufzuwachen? Meinen Körper habe ich abgegeben, der Rumpf mit Armen und Beinen hängt, nur noch gerade so, an meinem Wahrnehmungsapparat, ja ich bin mir auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob ich mich überhaupt noch in mir befinde, ich gehöre den Ärzten und habe, komisch,

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