Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
Vom Netzwerk:
sich die Neigung der Lehne verstellen läßt, wirkt handgeschmiedet. Dieser Rollstuhl muß ein Vorkriegsrollstuhl sein, Wehrmachtssoldaten dürften darauf gesessen haben und durch Lazarette geschoben worden sein. Ist er vielleicht erst vor kurzem in einem jahrzehntelang versiegelten Bunker gefunden worden, oder stammt er aus einem Museum, das wegen Mittelkürzung geschlossen werden mußte? Ich setze mich auf das Gefährt, die Überlebensbeutel, die transparenten Tüten mit den Flüssigkeiten, die aus meinem Inneren tropfen, die eine fast schwarz, die andere ockerfarben, legt die Schwester auf der Sitzfläche zwischen mir und der Rückenlehne ab. Ich passe auf, daß ich sie nicht zerquetsche.

140
    Ich muß an die Schulfreundin denken, deren Vater Rollstühle, Krücken und Prothesen verkaufte, Sanitätsfachhandel nannte sich das. Nach der letzten Stunde ging ich manchmal mit zu ihr, ihre Eltern waren zu dieser Zeit nie zu Hause, sie hatten beide in ihren Geschäften zu tun, der Vater im Sanitätshaus, die Mutter in der Dessous-Boutique. Meist lagen wir in ihrem Zimmer auf dem Bett, aßen Pizza und hörten Platten. Sie hatte sehr viele Platten, Langspielplatten, Vinyl, dann auch CDs, und kaufte sich, sie bekam viel Taschengeld, jede Woche drei oder vier neue hinzu. In dem dafür eigentlich zu kleinen Garten hatte ihr Vater einen künstlichen Wasserfall anlegen lassen, der sich mit einer Fernbedienung nicht nur an und aus, sondern auch schwächer oder stärker stellen ließ – mir gefiel das Wasserfallplätschern, ein stetes Rauschen lag wie ein Teppich unter, gelegentlich auch über allen anderen Geräuschen. Manchmal zog sie, sie hieß Alexandra, ihr T-Shirt aus und zeigte mir neue Motivunterwäsche, die sie sich im Laden ihrer Mutter ausgesucht hatte. Ihr Biene-Maja-BH gefiel mir am besten.

141
    Der Rollstuhl rollt durch die sich wie von selbst öffnenden Automatiktüren hinaus auf die Rampe vor dem Haus 4, die Rampe, auf der die Krankenwagen halten, die Fahrzeuge der Bestattungsunternehmer parken ein Stück weiter. Ich bin wieder unten, bin an der Luft, ich lebe. Der Rollstuhl rollt auf die Mittelallee, unter die Kronen der Kastanienbäume, ihr Laub ist sehr grün, in doppelter Doppelreihe bilden sie ein Dach über den Wegen, einen dunkelgrünen Tunnel, die Rinden der Stämme zeigen zerfurchte Muster. Hin und wieder holpert ein Rad über eine der hellgrünen, murmelgroßen Babykastanien, zu früh heruntergefallen, abgeschüttelt vom Wind, sie sind noch weich. Sie zu überfahren verursacht ein häßlich schmatzendes Geräusch.
    Der Physiotherapeutin, die mich an den weißlackierten Retrobänken und den doppelkegelförmigen Standaschenbechern vorbeischiebt, schlage ich vor, mich noch weiterzuschieben, über den Südring Richtung Nordufer, sie soll mich doch bitte bis zum Pfad am Kanal schieben, ja warum nicht gleich die Böschung hinunter, dicht ans Wasser. Statt das zu tun, zwingt sie mich aufzustehen, sie hat eine Stimme, der ich nicht widerstehen kann, ich muß tun, was sie sagt, mein eigener Willen, wo ist der hin? Sie zwingt mich, ein paar Schritte zu gehen, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Schritte, eine unglaubliche Strecke, offenbar bin ich tatsächlich auf einem anderen Planeten gelandet, einem, auf dem die Schwerkraft viel größer ist als auf der Erde. Die Physiotherapeutin trägt die durchsichtigen Plastikbeutel mit meinen Körpersäften hinter mir her, die beiden dünnen Schläuche, die sich durch meine Haut bohren, bilden die Leine, an der sie mich spazierenführt. Als ich mich umdrehe, weil ich mich doch lieber wieder setzen möchte, ist der Rollstuhl weit, sehr weit entfernt.

142
    Die Rollstuhlfahrt ist eine Kamerafahrt mit ungewohnt niedriger Perspektive und erinnert mich an einen Dokumentarfilm, in dem Éric Rohmer bei Dreharbeiten gezeigt wurde. Er saß mit der Kamera in der Hand in einem Rollstuhl und ließ sich vor einem sich unterhaltenden Schauspielerpaar über den Bürgersteig ziehen. Ich glaube, das waren Dreharbeiten zu Les Rendez-vous de Paris .

143
    Wir überqueren einen Zebrastreifen, der aussieht, als hätte ein hungriges Tier einige Balken angeknabbert. Einer der Gärtner in den Grünanlagen balanciert eine Motorsäge an einem mehrere Meter langen Stiel hin zu einem Ast, es dauert nur Sekunden, der Baum heult auf, der Ast fällt. Fünf Polizisten stehen in dunkler Kampfmontur vor der Augenklinik, ihre schußsicheren Westen und die gepolsterten Schulterpartien verbergen

Weitere Kostenlose Bücher