Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
Vom Netzwerk:
Er hält die Schmerzen nicht länger aus, will einfach nicht weiterleben und setzt sein Immunsuppressivum ab, verweigert die Einnahme, woraufhin seine Ärzte ihn von der Polizei abholen lassen, Zwangseinweisung zur Rettung des Organs, denn das Organ, so die Überzeugung der Ärzte, sei Eigentum der Klinik. Laut Gerichtsbeschluß muß der Junge dann jedoch entlassen werden, Gutachter befinden, er sei reif genug zu entscheiden, ob er leben oder sterben wolle. Die Frage, wem das transplantierte Organ gehöre, wird allerdings nicht geklärt. Der Junge lebt noch einige Wochen zu Hause, dann stirbt er. Das Organ stirbt mit.

154
    Ich erzähle B. von meinen imaginären Begegnungen mit der Spenderin. Daß ich von ihr träume. Daß ich sie mir als Finnin oder Österreicherin vorstelle. Daß ich mir eine europäische Liebesgeschichte zurechtspinne, eben weil ich nichts weiß.
    Da berichtet er, wie freigebig Ärzte in den Anfangszeiten der Transplantationsmedizin mit den Namen und Daten der Spender umgegangen sind. Es gibt sogar Fotos von den ersten Spendern, abgebildet neben den Fotos der ersten Empfänger. Warum sollten Empfänger und Hinterbliebene nicht Kontakt miteinander aufnehmen, haben sie gedacht. Die eine Seite könnte sich bedanken, die andere fände vielleicht Trost. Ja, wahrscheinlich haben die frühen Transplantationschirurgen sich darüber wenig Gedanken gemacht.
    Dabei läßt sich leicht ausmalen, was passieren könnte, wenn ein Organempfänger an einer Haustür klingelt und sagt: Guten Tag, ich möchte mich bedanken für das Herz Ihres verstorbenen Gatten. Sein Herz haben Sie doch schon bekommen, schreit die Witwe, was wollen Sie noch? Sein Haus vielleicht? Sein Geld? Wollen Sie auch noch den Rest seines Lebens? Wollen Sie mich dazu? Ich verzeihe Ihnen nicht, ich verzeihe Ihnen Ihr Überleben nicht, so brüllt die Löwin.
    Andersherum gefragt: Wäre ich begeistert, wenn hier die Tür des Krankenzimmers aufginge und dein Mann stünde plötzlich an meinem Bett? Deine Mutter, dein weinendes Kind, dein Bruder, deine Geliebte? Was würden sie von mir erwarten? Und dürfte ich, ja müßte ich ihnen verraten, daß du noch da bist, weiterlebst in mir? Und würde ich gern einen Brief von einem Fremden bekommen wollen, der mir erzählt, wie schön sein neues Leben sei, sein Leben mit dem Herzen, der Lunge oder der Leber meiner toten Frau?
    Lieber nicht.

155
    Der Baum vor dem Fenster winkt mit seinen Zweigen. Winkt er mir? Soll ich kommen?

156
    Ich hätte ja auch nicht mit dir, sondern mit jemand anderem zusammenkommen können, damals, in jener Winternacht, kurz vor vier, als ich schon einmal angerufen wurde und nicht bereit war, weil ich das Kind nicht wecken wollte. Es war eine Nacht von Freitag auf Samstag, die Straßen waren vereist, ich vermute, es hatte einen schweren Unfall gegeben.

157
    Und jetzt, wie lange noch? Die nächsten Tage? Ein Jahr? Vier, fünf Jahre? Sieben? Zehn? Zwölf? Na, wir wollen nicht gleich gierig werden. Die Zeit läuft, sie läuft einfach ab.

158
    Ich wache auf und weiß plötzlich nicht mehr, ob es schon passiert ist. Steht mir die Operation noch bevor, oder habe ich sie schon hinter mir? Ich lege meine rechte Hand flach auf den Brustkorb und schiebe sie langsam Richtung Nabel, die Hand geht auf Expedition ins Ungewisse, sie weiß nicht, was sie erwartet, sie wandert nach Süden Richtung Nabeläquator, tastet sich vor, und schon bald erreicht die Vorhut in Gestalt der Fingerkuppen des kleinen Fingers und des Ringfingers den ersten Ausläufer des Wulstgebirges, das sich knapp unterhalb des Brustbeins erhebt, die Fingerkuppen fühlen, daß die Aufstülpung sich kurz vor dem Nabel verzweigt, seltsame Formation, denke ich, ein doppelter Karpatenbogen zieht sich über meinen Bauch. Da weiß ich wieder, es ist passiert.

159
    Und was macht meine Mutter hier am Bett, mitten in der Nacht? Ist sie nicht schon lange tot, selbst wenn ich das hin und wieder vergesse? Nein, da sitzt gar nicht meine Mutter, es muß eine Schauspielerin sein, die ihr ein wenig ähnlich sieht, sie sieht aus, wie meine Mutter vor einem Vierteljahrhundert ausgesehen hat, schon deshalb kann es nicht meine Mutter sein, sie wäre kein bißchen gealtert. Die Frau sitzt da, bemerkt, daß ich wach bin, sagt guten Tag und fragt, wie es mir geht. Gut geht es mir, danke, ich kann nicht klagen. Und Ihnen?

160
    Die Tür in der Wand öffnet und schließt sich. Meine Mutter, mein Großvater, Rebecca und andere Tote schauen herein.

Weitere Kostenlose Bücher