Leben (German Edition)
Leber ja nicht spüren. Es gibt keine Nervenzellen in der Leber, es gibt auch keine um die Leber herum. Dich aber kann ich spüren, du bist da. Wir kennen uns nicht und kennen uns doch, ich träume deine Träume, du hast die Traumchemie ja mitgebracht.
Und wie sind wir jetzt verwandt? Bist du Nichte, Tante, Gewebe-Cousine? Bist du die Schwester, mit der ich ein Verhältnis habe, von dem natürlich keiner weiß? Bist du Braut und Schwester dem Bruder, blüht nun Wälsungenblut?
Aus meiner Krankenakte weiß ich, daß ich eine Eurotransplant-Leber habe, daher weiß ich auch, daß du, obwohl ich dich manchmal spanisch sprechen höre, eher nicht aus Spanien stammst. Spanien verteilt Spenderorgane national, Eurotransplant, die Stiftung in Leiden, verteilt die Spenderorgane aus den Beneluxländern, aus Deutschland, Österreich, Slowenien und Kroatien. Es könnte also sein, daß du aus Österreich kommst wie mein Vater und irgendwo in Oberösterreich oder im Burgenland gegen einen Baum oder einen Felsen gefahren bist, du könntest auch in Belgien, in den Niederlanden oder in Luxemburg gestorben sein.
Eurotransplant glaubt, daß wir zueinander passen. Eurotransplant war der Meinung, wir sollten es miteinander probieren, du, mein Match, und ich, gleiche Blutgruppe, Rhesus negativ. Wir haben uns gefunden. Und haben uns verpaßt, bleiben jetzt aber zusammen. Und leben noch ein bißchen, du durch mich und ich durch dich.
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Ich weiß nichts über dich, ich weiß überhaupt nichts. Und doch fehlst du mir, du fehlst mir wie verrückt.
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Immerhin weiß ich, wann du gestorben bist, ich kenne deinen Todestag, es ist der Tag der Operation. Vorher, vor dem Anruf, habe ich hin und wieder gedacht: Irgendwo in Europa läufst du jetzt herum, sitzt im Auto oder im Kino, schaust einen Film, fährst Fahrrad, liegst in einem Freibad auf der Wiese, liest ein Buch oder blätterst nur darin, ißt Streuselkuchen, Spaghetti oder Sauerbraten. Und weißt nicht, daß du bald tot sein wirst.
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Ein junger Pfleger kommt mit dem Mittagessen ins Zimmer. Heute keine Spaghetti, kein Sauerbraten, auch Streuselkuchen gibt es nicht. Irgendeine Suppe, püriert.
Ich werde immer leichter. Wasser läuft aus mir heraus, all das Bauchwasser, das ich die letzten Jahre mit mir herumgetragen habe, läuft heraus. Die Ösaphagusvarizen, die Krampfadern in der Speiseröhre, die mich fast umgebracht hätten, bilden sich zurück, das Blut fließt durch die neue Leber, es gibt keinen Rückstau mehr, keine portale Hypertension, ich muß nicht mehr zur Ligatur, der nächste Termin wird abgesagt.
Und auch die Werte werden besser, der Ammoniakspiegel sinkt, sieht die Welt schon anders aus, hebt sich der Schleier? Ist das nicht ein schönes Zimmer, in dem ich liege? Die Sonne scheint, ein Baum steht vor dem Fenster, und wirklich: Ich habe großes Glück gehabt, ich bin noch da, Jackpot, Hauptgewinn, ich werde nur noch gute Tage haben, vita nova, neues Leben.
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Eine gute Fee ist gekommen und hat gesagt, ich darf noch ein paar Jahre bleiben. Nein, sie ist nicht vorbeigekommen, sie hat angerufen, am frühen Nachmittag, ich saß am Schreibtisch, und sie sagte: Du müßtest jetzt eigentlich sterben, wir Feen aber haben beschlossen, es noch einmal mit dir zu versuchen, du darfst noch leben, wenn du … die Bedingung habe ich leider nicht verstanden, die Verbindung war zu schlecht.
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Und du, Organ, gehörst jetzt wirklich mir? Wem gehört ein transplantiertes Organ? Wurde es mir geschenkt, oder gehört es weiterhin Eurotransplant, der Klinik oder der Krankenkasse? Ist es etwa so, daß ich dich nur verwahren, versorgen, durchbluten, erhalten soll? Bin ich bloß der Behälter, der Apparat, der dich am Leben erhält? Könnte eines Tages ein Brief im Kasten liegen, in dem ich lesen muß: Herr W., wir hätten gern unsere Leber zurück, kommen Sie doch bitte am Soundsovielten ins Krankenhaus, wir haben einen Besseren gefunden, einen, der sie eher verdient, besser versorgt, mehr aus ihr macht?
Das sind ja Ängste.
Ich könnte dich ohnehin weitergeben. Verschenken. Stürbe jetzt ich, könntest du, liebe geliehene Leber, herausoperiert und weiterverpflanzt werden. Ist schon vorgekommen, erzählt mir B., daß ein Organ mehrfach transplantiert wurde, Taler, Taler, du mußt wandern, von dem einen zu dem andern.
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Nicht zu meiner Erheiterung lese ich von einem Fall in Amerika: Ein Patient, fünfzehn Jahre alt, möchte nach einer zweiten Lebertransplantation nicht mehr.
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