Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
Vom Netzwerk:
sekundäre Geschlechtsmerkmale, erst auf den zweiten Blick erkenne ich, daß einer von ihnen eine Frau ist. Der Leichenwagen eines Bestattungsunternehmens aus Osnabrück parkt auf dem Seitenstreifen, ein Ford mit cremefarbenen Vorhängen (und ebenso cremefarbenem Sichtschutz hinter den Scheiben), kein Sarg ist zu sehen. Ein Mitarbeiter des Charité-Facility-Managements schiebt eine Art Dreirad vorbei, kein Gefährt für Menschen mit Gleichgewichtsproblemen, sondern ein Transportmittel, auf dessen kleiner Ladefläche hinter dem Sattel ein Müllkübel steht, je zwei Besen und Kehrichtschaufeln stecken in dafür vorgesehenen Halterungen. Hier und da Lichthauben aus Glas, auf dem Klinikgelände ist fast alles unterkellert, eine Unterwelt unter der Unterwelt. Eine Ameise wandert über eine Pflasterplatte, sie weicht nach links aus, dann nach rechts, mäandert, folgt einer Duftspur, kennt wahrscheinlich gar nicht ihr Ziel.

144
    Besuch ist da, Besuch kommt ziemlich oft, diesmal Susanne. Zusammen mit der Schwester hilft sie bei der Verwandlung, ich werde wieder Astronaut und Dandy, Susanne schiebt den Rollstuhl. Wir drehen eine Runde über die Mittelallee, vorbei am Klinik-Kindergarten und am Spielplatz. Vor der Cafeteria West läßt sie mich in der Sonne stehen und kauft uns ein Eis, keimarmes, fabrikverpacktes Industrieeis darf ich essen, fast wie im Freibad, nur hat Susanne keinen Bikini an. Und ich habe Eis am Stiel noch nie mit weißen Handschuhen gegessen.
    Susanne erzählt von ihrem Sohn und dessen Vater, von dem sie sich wieder einmal trennen möchte, sie hat schon eine eigene Wohnung, zögert den endgültigen Auszug aber hinaus. Es ist warm, warme Luft weht mir unters Flügelhemd, und während ich Susanne lausche, bin ich mit meinem Erektionsproblem beschäftigt, ich habe es schon seit ein paar Tagen, oben im Bett und hier unten, der Rollstuhl ist mein Erektionsmobil, seit ich darin herumgeschoben werde, habe ich einen Ständer, einen schmerzhaft harten Ständer, es tut weh. Ich komme mir vor wie ein Käfer mit ausgefahrenem Unterleibsfühler, ja es fühlt sich an, als wollte mein Schwanz sich die Welt neu ertasten, als hätte ich, dieser Körper, diese kümmerliche Keimhaubengestalt, kein anderes Problem.
    Susanne erzählt noch immer und steuert in den unübersichtlichen Teil des Gartens, Richtung Isolierstation. Mir fällt ein, daß wir einmal, vor Jahren, in ihrem Hauseingang gevögelt haben, nachts, da war sie, was sie mir allerdings nicht verraten hatte, bereits schwanger, ein anderes Mal auf einem Flurbalkon im siebzehnten Stock eines Hochhauses im Märkischen Viertel, die Tür stand offen, Aussicht nach Alt-Lübars. Sie setzt sich nun auf eine Bank, mir gegenüber, und ich überlege, ob ich mein Nachthemd nicht ein wenig höher ziehen und ihr von meinem Erektionsproblem erzählen sollte, das ja, ich weiß es, eine physiologische Ursache hat: Der neuen Leber gelingt es, das Östrogen in meinem Blut besser abzubauen, weshalb ich einen ungewohnt hohen Testosteronspiegel habe und vielleicht auch ein wenig verwirrt bin, denn auf einmal sehe ich die Eis essende, in die weitschweifige Erzählung ihrer Trennungsgeschichte vertiefte Susanne meinen Schwanz lutschen, sie hat mir unter die Keimsoutane gegriffen und ihn hervorgeholt, sie leckt und saugt und beißt, bis wir uns schließlich küssen.
    Später schiebt sie mich zurück.

145
    Mein Bettnachbar. Sein Schnarchen klingt beruhigend.

146
    Da sitzt du wieder auf meinem Bett, heute in einem blutroten Pullover. Ich sehe nicht, wie alt du bist, ich weiß nicht, wie du heißt, du sitzt da im Halbdunkel, verlorenes Profil, du könntest siebzehn, siebenunddreißig oder vierundvierzig sein, ich kann ja dein Gesicht nicht sehen, seltsam verschwommen sieht es aus, als wäre es weichgezeichnet oder unkenntlich gemacht. Ich weiß nicht einmal, ob du ein Mann oder eine Frau gewesen bist und wo du gelebt hast, bis vor ein paar Tagen. Ich weiß nur, wo du jetzt bist, hier, bei mir, sonst weiß ich nichts, gar nichts, kenne nicht deine Haarfarbe und weiß nicht, wie du riechst, du, die Frau, die ich mir zurechtphantasiere, die Frau, die einen Organspendeausweis in ihrem Portemonnaie hatte, die Achtzehnjährige, die ohne Helm von ihrer Vespa fiel, die junge Mutter, die beim Baden verunglückte, die ältere Frau mit der Hirnblutung, vielleicht warst du aber auch ein frustrierter alter Mann, fernsehsüchtig, häßlich, fett und böse. Und ich werde es nun auch.

147
    Ich kann meine

Weitere Kostenlose Bücher