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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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oder übernächsten Tag mieteten wir eine Dyas – Julia, die Bootsbauertochter, kannte sich mit Booten aus –, segelten hinüber nach Malcesine und aßen ausgerechnet in dem Hotel zu Mittag, in dem ich den letzten Kinderurlaub mit meinen Eltern verbracht hatte. Am Abend, als wir das Boot zurückbrachten, schmerzte mein Rücken vom Sonnenbrand.
    Bald darauf brachten wir Judith zum Bahnhof in Rovereto, sie stieg in einen Zug nach Triest, um dort den Maler zu treffen, mit dem sie damals ein Verhältnis hatte, einen Maler, den ich in Berlin noch heute hin und wieder auf der Straße sehe, wir grüßen uns, er wohnt in der Nachbarschaft, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Julia und ich blieben noch ein paar Tage in dem Haus oberhalb des Sees, gingen schwimmen, lasen und spielten Federball, pflückten Tomaten, die im oleanderüberwucherten Garten wuchsen, und kochten daraus Tomatensauce, fuhren mit dem Auto spazieren und aßen abends in einer Dorfgaststätte oben in den Bergen. Dem Sterbehaus, einem weißen, in der Sonne leuchtenden Kasten, kamen wir nicht zu nahe.
    Oder war es ganz anders, frage ich mich jetzt? Kein Zweifel, es war sehr heiß. Und ich erinnere mich, daß eine der beiden Frauen den grandiosen Einfall gehabt hatte, noch vor ihrer Abreise aus Berlin einen gefütterten Umschlag mit Gras an den Gardasee zu schicken, er kam allerdings leer an. Und daß wir eines Nachts in der Dunkelheit am See saßen und rauchten und unser einziges Feuerzeug zwischen die großen, glitschigen Kieselsteine fiel. Und daß wir dieses Feuerzeug daraufhin fast eine Stunde lang verzweifelt suchten, auf allen vieren, und uns dabei, bekifft und besoffen, wie wir waren, kaputtlachten. Daß, solange wir suchten, eine Zigarette an der anderen angezündet werden mußte, pausenlos.

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    Mein Bettnachbar, dem die halbe Leber entfernt wurde und die Schwiegertochter in Kuba abhanden kam, wird in eine andere Klinik verlegt. Einen Vormittag lang liege ich allein im Zimmer, dann verkündet die Stationsschwester, daß ich das Zimmer wechseln müsse, schöner, noch schöner werde das neue Zimmer sein, ich aber weiß schon, das ist Stationshumor, die Zimmer sind alle gleich. Sie nimmt meine Tasche aus dem Schließfach, beginnt, sie für mich zu packen, und fährt mich, kleine Reise, einen Raum weiter, schiebt mich auch dort ans Fenster. Den Nachtschrank rollt ein Pflegepraktikant hinter uns her, mein Schmerzmitteldepot bleibt unentdeckt.

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    Weil ich wieder so geschwitzt habe, bringt die Schwester mir ein neues Nachthemd, hilft mir aus dem, das ich noch trage, heraus, zieht mir das frische über den Kopf und knöpft es im Nacken zu, die Schläuche und die anhängenden Beutel führt sie vorsichtig durch den kurzen Ärmel. Allein anziehen kann ich mich noch nicht. Mir gefällt, daß die Schwester nicht Nachthemd, sondern Flügelhemd sagt. Flügel hätte ich nämlich gerne.
    Ich muß an Rebeccas Nachthemd denken, das in Paris fast ein halbes Jahr unter meinem Kopfkissen lag, in der Wohnung, in der das Heiner-Müller-Zitat hing, Deutscher sein hieß auch Indianer sein, das las ich da jeden Morgen. Ihr Nachthemd, ein weißes, von ihrer Großmutter geerbtes Spitzennachthemd, hatte sie nach ihrem ersten Besuch dagelassen, als Andenken, außerdem konnte sie so behaupten, sie habe noch ein Nachthemd in Paris. Bei ihrem zweiten Besuch ärgerte sie sich, daß ich es nicht gewaschen hatte, das aber hatte ich mit gutem Grund nicht getan, ich wollte ja, daß etwas roch wie sie.
    Ich greife unter das dünne Krankenhauskissen – aber da liegt nur mein stumm und auf Vibration geschaltetes Telefon mit dem Kopfhörerkabel, kein geerbtes Spitzennachthemd, schade. Sonderbarerweise habe ich noch heute, anderthalb, bald zwei Jahrzehnte später, eine genaue Vorstellung davon, wie dieses Nachthemd roch. Es war eine Geruchsbatterie, verströmte Rebeccas Duft, der mir nun, so wie ich ihn in Erinnerung habe, in die Nase steigt. Hatte sie das Nachthemd an, war es ziemlich durchsichtig. Trug sie keine Unterhose, leuchtete ihr Schamhaar durch die Spitze.

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    Und wieder: Kann ich meiner Erinnerung trauen? Wurde mir vielleicht eine neue eingepflanzt? Habe ich auf einmal eine andere Vergangenheit und das bisher nur nicht bemerkt? Sind das womöglich deine Erinnerungen? War das nicht Rebeccas Nachthemd, sondern deins?
    Ich bin jetzt eine Chimäre, B. hat es mir erklärt: Nach einer Transplantation zeigt sich ein Chimärismus im Knochenmark des Organempfängers. Genotypisch

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