Leben im Buero
Evaluation zur alles umspannenden Wahrheitsformel unserer Arbeitssphäre geworden: »das gehört doch zunächst mal evaluiert«, »das hätte längst mal evaluiert werden müssen«, wer so redet, sagt nie etwas Falsches und darf mit dem zustimmenden Nicken seiner Vorgesetzten rechnen. So wie alles jederzeit »auf den Prüfstand« und »mit einem Preisschild« versehen gehört (o ihr Büro-Redensarten dieser Jahre!), so muss und soll jeder unserer Taten die Evaluation auf dem FuÃe folgen, weshalb sie in unsere Kosten immer schon »eingepreist« ist. Wir bezahlen also nicht mehr nur für unsere Aktivitäten, sondern immer auch gleich für deren Dokumentation, Bewertung und Rechtfertigung, für Dinge also, die in älteren Stadien der Menschheitsgeschichte en passant vom Gehirn mit erledigt wurden, während sie heute in die Hände von externen Agenturen gegeben sind. Die Dokumentation macht mir eine Kommunikationsagentur, die Bewertung eine Evaluationsagentur und die Rechtfertigung eine Unternehmensberatung, und weil alle diese Firmen auch künftig mit uns Geschäfte machen wollen, werden sie sich hüten, uns die ganze Wahrheit zu erzählen. Warum hat nur das Wort »extern« in der Bürowelt einen solch verführerischen Klang? Von den Externen erwartet uns das Heil, so wie uns das Licht vom Orient her aufgeht. Der Externe, nennen wir ihn Evaluator, Agent, Coach, Berater, Teamentwickler, Moderator oder Psychologe, lebt von meinen Defiziten, und das nicht schlecht. Er lebt davon, dass ich ein Mängelwesen bin, das Hilfe braucht, irgendein Mittelding zwischen Patient und Delinquent.
Mit der Ankunft der Externen naht die Stunde der Bewährung. Ich bin, so sieht es aus, verschuldet oder unverschuldet schwach geworden, und nun rücken die Bewährungshelfer an, um mich auf den Pfad der Tugend zurückzuführen. Die Externen bieten mir ein Korsett an, das meine Defizite wenn nicht heilen, so doch mildern soll. Auch hier, im Umgang mit den Externen, die um meinen Arbeitsplatz herumstehen wie die Ãrzte um das Krankenbett, höre ich wieder die sanfte Stimme des Management-Mentors, der mir sagt: »Ich habe dieses Buch nur für Dich geschrieben. Du bist noch nicht da, wo Du hinwillst, aber ich will Dich ein Stück Weges begleiten, bis Du selbst verstehst, was Du aus Deinen Möglichkeiten machen kannst.« Könnte es sein, dass an die Stelle patriarchaler Ãber-Ichs (der brüllende, der jähzornige Chef) nun das sanft säuselnde Ãber-Ich der Berater und Betreuer getreten ist, die ständig nichts als mein Bestes wollen und nichts von dem, was sie mir sagen, als Kritik verstanden wissen wollen? Wäre ich nur eine Sekunde lang der Superman des Büros, der bei Richard Templar gleich nach dem Frühstück alle Regeln bricht, ich würde diese Händler und Wechsler umgehend aus meinem Tempel vertreiben. Aber wahrscheinlich hat mich diese softe Attitüde, dieses »Wir wollen Ihnen ja nur die Arbeit erleichtern, wir sind doch nur Facilitators, wir sind enablers «-Getue längst schon mürbe und selber weich gemacht. Ein Gutteil dessen, was während der Dienstzeit im Büro geschieht, ist eigentlich Therapie, eine an dieser Stelle zunächst unerwartete Wellness-Phase, in der dafür bezahlte Menschen mir gut und sanft zureden wie einem störrischen Ackergaul. Sie kritisieren mich nicht, sie provozieren mich nicht, sie schreien mich nicht an, im Gegenteil, sie bieten mir ihren »Support« und »Lösungen« an, bei denen ich nur folgen muss, damit daraus eine »Win-Win-Situation«, nämlich mein Lerneffekt und die Prämie des Beraters, entsteht.
Für all das kann auch der junge Evaluator nichts, der gerade in meinem Büro sitzt, er muss auch sehen, wo er beruflich bleibt und hätte vielleicht auch lieber einen richtigen Beruf als nur einen Flexjob in der Fragebogenindustrie. Strukturell gesehen ist er ein Parasit, wenn wir darunter einen Organismus verstehen wollen, der an oder in einem anderen Organismus lebt und seine Nahrung oder andere Leistung ohne gleichwertige Gegenleistung von seinem Wirt bezieht. Einer der wirklich florierenden Wirtschaftszweige unserer Zeit ist die Branche, die von der Beobachtung, Vermessung, Interpretation und Therapie der Arbeit anderer lebt. Liebe Externe, liebe Berater, wie wäre es, wenn ihr die Beobachtung meiner Arbeit kurzfristig einstellen
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