Leben im Käfig (German Edition)
Kleidung auf Alt getrimmt worden. Richard und Margarete von Winterfeld waren deutlich jünger als heute, standen in sicherem Abstand voneinander hinter einem Stuhl, auf dem ein traurig wirkender Junge saß. Seine braunen Augen waren zu groß für sein ernsthaftes, schmales Gesicht und die Krawatte um seinen Hals schien ihm die Luft abzuschnüren. Die Hand seines Vaters ruhte auf seiner dürren Schulter, aber es lag nichts Liebevolles in der Geste. Eher etwas Besitzergreifendes. Oder Kontrollierendes.
Keiner der Abgebildeten lächelte. Sascha überkam der nahezu manische Drang, nach oben zu gehen und den traurigen Jungen vom Foto zum Lachen zu bringen.
Keine Minute später polterte Sascha in Andreas' Zimmer.
„Da bin ich“, trompetete er gut gelaunt in den Raum, während er mit einer Hand hinter sich griff, um schnell die Tür abzuschließen. Man musste schließlich auf alles vorbereitet sein.
Andreas saß mit dem Rücken zu ihm an seinem Schreibtisch und tippte etwas auf der Tastatur. Seine Haare waren aufgegangen und hingen ihm halb ins Gesicht. Er drehte sich nicht um.
Sascha wollte hinübergehen und in die weichen Strähnen greifen, den Freund auf den Hals küssen und sofort in Richtung Bett ziehen. Darauf hatte er sich den ganzen Morgen lang gefreut.
Sein Plan kam zum Erliegen, als Andreas nur halb den Kopf drehte und kühl sagte: „Hey, ich wusste gar nicht, dass du kommen wolltest.“
Saschas Libido verlangte lautstark nach einem schmutzigen Wortspiel zum Thema „Kommen“, aber sein Verstand hielt ihn davon ab. Sein Verstand oder sein Instinkt.
Noch nie hatte Andreas ihn so kalt begrüßt. Noch nie hatte er ihm das Gefühl gegeben, nicht willkommen zu sein. Nicht, als er gestern auftauchte und nicht, als sie sich mit dem Termin geirrt hatten und er überraschend vor der Tür stand.
Was ist denn nun los, wollte Sascha fragen, traute sich aber nicht. Der bunte Ballon in seiner Brust bekam ein winziges Loch und fing an, lautlos Luft zu verlieren.
„Nein, wir hatten nichts ausgemacht“, sagte er langsam und machte zögernd zwei Schritte auf den Freund zu.
Andreas drehte sich um. Allerdings nicht mit dem Stuhl selbst, sondern indem er in einer unbequem aussehenden Verrenkung ein Bein über die Rückenlehne warf. Rittlings auf dem Stuhl sitzend sah er Sascha entgegen; die schwarze Lederlehne zwischen ihnen wie ein Schutzwall.
„Schon okay“, nickte Andreas betont lässig. „Ist ja nicht so, als ob ich keine Zeit hätte. Was geht ab?“
Sascha hatte das zwingende Bedürfnis, sich in den Arm zu kneifen. Was war hier los? Nach gestern hatte er mit einer etwas leidenschaftlicheren Begrüßung gerechnet. Oder mit Scham. Oder mit Nervosität. Oder mit einem wilden Kuss noch bevor er richtig im Zimmer war.
Doch alles, was ihn begrüßte, war ein Mensch, der eine eisige Maske trug und keinerlei Regung zeigte. Wenn sie sich gestern nah gewesen waren, stand jetzt die Berliner Mauer zwischen ihnen; inklusive Todesstreifen, Stacheldraht und Wachtürmen.
War es das gewesen?
Sascha konnte damit leben, dass nicht jede Fummelei in Richtung Ehe führte. Das hielt er selbst nicht anders. Nur einmal war es vorgekommen, dass er jemanden abservieren musste, der mehr für ihn empfunden hatte. Kurz gesagt, er hatte nicht erwartet, dass Andreas ihm entgegen flog und ihm seine große Liebe gestand. Das hätte ihn ziemlich erschreckt, wenn er ehrlich zu sich selbst war.
Aber nachdem sie gestern vertraut die Hand des anderen gehalten hatten, nachdem sie befriedigt waren und der Kontakt damit nicht mehr „notwendig“ war, hatte Sascha mit etwas anderem gerechnet. Mit mehr Enthusiasmus. Freude. Einem spitzbübischen Lächeln. Damit, dass sich etwas zwischen ihnen geändert hatte.
Andreas' Gesichtszüge glichen einer Wachspuppe und er gab den lässigen Kumpel, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen.
Ja, was ging ab? Gute Frage. Das hätte Sascha auch gerne gewusst. Sie waren sich fremder als am ersten Tag und er hatte keine Ahnung, wo dieser Wall herkam oder wie er ihn überwinden sollte.
Wollte er das überhaupt? Oder war es Zeit zu gehen? Hatte Andreas es von Anfang an auf das Intermezzo von gestern angelegt und nun kein Interesse mehr an ihm? Es wäre nicht ganz ungewöhnlich – zwischen zwei Männern, die sich weniger gut kannten jedenfalls -, aber damit hatte Sascha nicht gerechnet. Er fiel aus allen Wolken und es tat ihm mehr weh, als er sich eingestehen wollte. Weil Andreas Sicherheit bot, wo in
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