Leben im Käfig (German Edition)
hatte eine Größe und Sensibilität für die Stimmungen anderer, von der er selbst nur träumen konnte. Es war gut, dass sie sich begegnet war. Andreas tat Sascha gut.
Zwei weitere Kästchen verfärbten sich. Eines rot, das andere schwarz.
Und er hatte es zum ersten Mal zugegeben. Nicht davon gesprochen, dass andere Menschen ihn nervös machten oder dass er das Haus nicht verlassen konnte. Er hatte Sascha einen winzigen Blick hinter die gelassene Fassade werfen lassen und eingestanden, dass er mit schweren Ängsten zu kämpfen hatte.
Es war ein Vertrauensbeweis, aber es tat weh. Es tat weh, davon zu wissen und nichts tun zu können. Aber vielleicht tat Sascha ja schon etwas? Vielleicht war es gut für Andreas, dass er bei ihm war und ihn motivierte? Vielleicht könnte er ihn eines Tages bei der Hand nehmen und mit ihm nach draußen gehen. Ob als Freunde oder Geliebte war nicht so wichtig.
Hauptsache, Andreas konnte eines Tages den goldenen Käfig verlassen, in dem er eingesperrt war.
Besonders der Teil mit dem „bei der Hand nehmen“ gefiel Sascha. Er zeichnete ein grinsendes Gesicht auf seinen Block und umrahmte es mit einem Wust wilder, langer Haare. Dank seines mangelnden grafischen Talents erinnerte die Erscheinung eher an die Medusa als an Andreas.
Es ließ sich nicht leugnen. Er hatte nicht genug. Er wollte das, was sie gestern geteilt hatten, erneut erleben. Und wieder und wieder und wieder.
Was das auf lange Sicht bedeutete, wusste Sascha nicht. Es interessierte ihn nicht. Es gab keinen Grund, an diesem Punkt schon über Jahre oder gar Jahrzehnte in die Zukunft zu denken. Er wusste nur, dass er sich bei Andreas wahnsinnig wohlfühlte, Zeit mit ihm verbringen wollte und sich stärker zu ihm hingezogen fühlte als zu jedem anderen Jungen, mit dem er etwas gehabt hatte.
Alles, was Sascha jetzt und hier wollte, war, dass der Unterricht zu Ende ging und er sich auf den Weg machen konnte. Es gab noch so viel zu erfahren, zu erleben, zu erkunden.
Er konnte es kaum abwarten. Zweifel hatte er nicht.
Sie hatten gestern noch lange zusammen auf dem Bett gelegen und geschwiegen; ihre Hände ineinander verschlungen. Andreas hatte mit dem Daumen vorsichtig seinen Handrücken gestreichelt. Das machte man nur, wenn man den anderen gern hatte.
* * *
„Möchtest du zu Andreas?“
Sascha verharrte in seinem Schritt und sah sich suchend um. Der breite Akzent, der ihn stets an weite Ebenen, Wodka und Männerchöre erinnerte, verriet ihm, mit wem er es zu tun hatte, obwohl er niemanden sehen konnte.
Es raschelte zwischen zwei ausgeblühten Rhododendron-Büschen. Gleich darauf erschien Ivanas schüchternes Gesicht in der Lücke.
Sie schob die Äste beiseite und nickte ihm zu: „Komm ruhig hier durch, Junge. Dann muss ich nicht erst nach vorne laufen.“
Dankbar folgte Sascha der Einladung und kroch durch das dichte Buschwerk in den Nachbargarten. Praktisch. Er hatte nicht gewusst, dass es hier einen natürlichen Durchgang gab. Er hatte es schließlich eilig.
Die Haushälterin hielt einen altertümlich wirkenden Teppichklopfer in Händen und sah ihm entgegen. Hinter ihr auf einer Wäscheleine schaukelte ein finster aussehender Perserteppich.
„Danke, aber ob es den von Winterfelds so recht ist, dass Sie mir die Geheimgänge auf das Grundstück zeigen, Ivana?“ Es sollte ein Witz sein.
„Och, das interessiert die sicher nicht“, rutschte es der Ukrainerin heraus. Augenblicklich von ihren eigenen Worten überrascht wandte sie den Kopf ab und hüstelte verlegen. „Andreas ist in seinem Zimmer. Einfach die kleine Steintreppe hoch und von da ins Wohnzimmer. Du findest dich schon zurecht.“
Natürlich war Andreas in seinem Zimmer. Wie hoch war schon die Wahrscheinlichkeit, dass er sich woanders aufhielt?
Aber Sascha sagte nichts, nickte lediglich und machte sich auf den Weg in die Villa.
Durch die weit offene Terrassentür stolperte er in das herrschaftliche Wohnzimmer, das zwischen antiker Schwere und moderner Linie schwankte. Ein merkwürdiger Stil. Weiße Ledersofas mit passenden Glastischen, aber an den Wänden mehrere Stiche alter Fabrikgebäude. Klare Linien bei den spärlichen Vorhängen, aber über dem aus weißem Marmor geschlagenen Kamin hing ein Familienbild.
Sascha war sich sicher, dass dieser Kamin nie entzündet wurde. Das in einen massiven Holzrahmen eingefasste Bild interessierte ihn. Es handelte sich um eine Fotografie, aber sie war durch einen entsprechenden Hintergrund und steife
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