Leben im Käfig (German Edition)
irgendwie tat es weh, so abgekanzelt zu werden. Sascha kam damit nicht gut zurecht. Es schmerzte in einer Region, die seit seinem Umzug nach Hamburg sehr empfindlich geworden war.
„Lass mich bitte in Ruhe.“
Bitte. Das klang fast höflich, aber auch sehr kalt. Und Sascha verstand es nicht. Was hatte er Andreas getan? Er hatte sich auf ihn gefreut und nun bekam er nicht einmal eine vernünftige Antwort.
„Mann, was soll das? Ich finde, du könntest mir schon sagen, was los ist. Gestern war alles okay und heute soll ich dich in Ruhe lassen. Ist irgendetwas passiert?“
„NEIN, ES IST NICHTS PASSIERT. UND JETZT VERPISS DICH ENDLICH!“
* * *
Das eiskalte Wasser half, seinen Kreislauf zu wecken.
Im Nachhinein war er nicht sicher, ob das gut war. Denn umso schneller sein Herz schlug, umso stärker wurden die Schmerzen. Tropfen für Tropfen perlte über Andreas' zitternden Körper, benetzte seine mit Gänsehaut überzogene Haut, fing sich in seinen Haaren.
Mitternacht lag lange hinter ihm und drohte in einen grauenerregenden Tag überzugehen. Wie lange er noch Kraft hatte, bevor er den Verstand verlor, vermochte er nicht zu sagen. Aber der Wahnsinn lungerte bereits an seiner Türschwelle und drohte ihn zu überwältigen. Gefangen zwischen höllischen Schmerzen und panischer Angst wünschte er sich zum ersten Mal seit Langem, dass sie etwas unternommen hätten. Unternommen gegen das, was es ihm unmöglich machte, sich in dieser Situation wie ein normaler Mensch zu verhalten.
Zurückblickend hatte sich das Problem seit Tagen abgezeichnet. Oft hatte er Kopfschmerzen gehabt, dazu einen merkwürdigen Geschmack im Mund, immer wieder Schmerzmittel geschluckt. Am Wochenende hatte es sich zugespitzt. Anfangs ließ sich das Problem mit starkem Ibuprofen noch stundenweise in den Hintergrund drängen, aber seit Montagabend war es die Hölle auf Erden. Er konnte nicht sagen, was nicht in Ordnung war. Er wusste nur, dass ihm mittlerweile die gesamte Seite wehtat. Der Schmerz zog vom Backenzahn bis nach vorne zu den Schneidezähnen, nach oben in seine Schläfen und bis in seinen Nacken hinein. Er fand keine Ruhe. Seit mehr als 24 Stunden wurde er von seinem eigenen Körper gefoltert und er konnte nichts dagegen tun.
Noch war der Gedanke, einen Zahnarzt aufzusuchen beängstigender als die kaum zu ertragenden Schmerzen.
Andreas stellte das Wasser ab und torkelte ins Freie. Beinahe wäre er über die Kante der Dusche gefallen. Das wäre vielleicht nicht das Schlechteste. Wenn er sich den Kopf anschlug und in Ohnmacht fiel, müsste er wenigstens keine Schmerzen leiden. Was ihn daran erinnerte, dass es immer noch eine Alternative gab. Wenn er das Lorazepam mit den Schmerzmitteln mischte, konnte er vielleicht schlafen. Ein paar Stunden nur, aber vielleicht starb der Nerv in der Zeit ab.
„Fuck“, fluchte er atemlos und starrte in den Spiegel, öffnete den Mund, um zu prüfen, ob er sehen konnte, was mit seinen Zähnen vor sich ging.
Genau dieses Szenario hatte er immer gefürchtet. Den Tag, an dem ihm körperlich etwas fehlte und er nicht zum Arzt kam. Auch wenn er sich um sonst nichts kümmerte, er hatte stets darauf geachtet, dass er sich mindestens zwei Mal am Tag die Zähne putzte, damit kein Verfall Einzug erhielt.
Es war nichts zu sehen. Nicht für einen Laien. Aber es tat so weh, dass sein Schädel unter dem Schmerz explodieren wollte.
Abgehackt atmend ging er in die Knie und lehnte die geschwollene Wange gegen den Marmor des Waschbeckens. Das Wasser rann von seinem Körper und tränkte die Fliesen. Es half nicht. Kein bisschen.
Wie viele Tabletten hatte er schon genommen? Viel mehr als er laut Packungsanweisung durfte. Er hatte versucht zu schlafen. Er hatte Nelken aus der Küche geholt und auf den Zahn gelegt, um ihn zu betäuben. Er hatte die Wange von innen und außen mit Eiswürfeln gekühlt, sodass sich dunkelrote Erfrierungen bildeten. Er hatte versucht, sich hinzulegen. Er hatte versucht, sich abzulenken. Und nichts half. Es fühlte sich an, als würde sein Zahnfleisch jeden Augenblick bersten. Und er wäre froh darum, denn der Druck machte ihn verrückt.
Er hatte Sascha angeschrien. Zumindest via Internet. Hätte er noch Kraft für eine Empfindung außer Schmerz gehabt, hätte er sich dafür geschämt. Aber er brauchte all seine Energie, um sich mit seinem Zustand zu arrangieren.
Niemand durfte ihn so sehen. Niemand durfte miterleben, dass er sich wie ein gefoltertes Tier quälte. Niemand sollte
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