Leben im Käfig (German Edition)
herauszureden. Ich fahre dich hin, komme mit hinein, würge den Zahnarzt ein bisschen, wenn er dich piesackt, und damit basta.“
„Warum?“
Sascha musste zugeben, dass das eine hervorragende Frage war. Sie kam zu schnell und der unabhängige Geist in ihm wollte sie nicht ehrlich beantworten.
Er konnte Andreas erzählen, dass es selbstverständlich war, dass er sich seiner annahm. Er konnte ihm auch klar machen, wie ungewöhnlich und falsch es war, dass seine Eltern ihn nicht begleitet hatten. Er konnte ihm einen Klaps auf die Schulter geben und poltern, dass Freunde sich nun einmal nicht im Regen stehen ließen.
Jeder einzelne Punkt entsprach der Wahrheit und gleichzeitig war es eine große Lüge, die er nicht einmal selbst erkannt hätte, wenn er nicht vor ein paar Tagen brutal auf dem Boden der Tatsachen aufgeschlagen wäre. Andreas nicht um sich zu haben, nicht zu ihm fliehen zu können, ihn in einem solch desolaten Zustand zu sehen, zerriss Sascha innerlich.
Es brachte nichts, sich etwas vorzumachen. Sie konnten nicht wie Boxer umeinander kreisen und darauf warten, dass sie sich in der Mitte trafen. Dafür brauchte Andreas ihn zu sehr. Und Sascha brauchte Andreas.
Schon zu lange hatte er die Augen verschlossen. Sie fühlten mehr füreinander als Kumpel. Ihre Gier aufeinander, die nicht erlosch, die Art, wie sie nach der Leidenschaft scheu Nähe suchten und sich nicht trauten, und vor allen Dingen das, was ihn jetzt wünschen ließ, die Zeit zurückdrehen zu können. Es war da, es war fremd, aber es ließ sich deswegen noch lange nicht wegdiskutieren.
Ehrlichkeit war eine Tugend, obwohl sie in dieser Situation vielleicht zu viel für Andreas war. Trotzdem schrie alles in Sascha danach, es darauf ankommen zu lassen. Und wenn die Dinge so lagen, wie er zu hoffen wagte, dann würde alles gut werden. Wenn Andreas derjenige war, der Angst hatte, musste er eben mutig sein.
„Dreh dich mal zu mir um“, wisperte Sascha sanft.
Er half nach, indem er die Hand in Andreas' Hüfte grub und zog. Als sie sich gegenüberlagen, wurde er nervös. Andreas' Gesicht, angeschwollen, als hätte ihn jemand geschlagen. Er wollte Andreas küssen, aber das war in dessen Zustand kaum eine gute Idee.
Sascha nahm sich ein Herz, als er das unruhige Flackern in den Augen des anderen sah. Er durfte ihn nicht zu sehr aufregen: „He, was glaubst du denn? Du bist mein Freund. Ich kann es nicht ertragen, wenn es dir schlecht geht.“
„Dein Freund?“
Die Frage stand im Raum. Sie wussten beide, dass sie nun definieren mussten, ob sie Freunde waren oder ob er Andreas' Freund war. Sie standen an einem Scheideweg und Sascha musste entscheiden, welchen Weg sie einschlagen würden. Es war der falsche Zeitpunkt und gleichzeitig der beste, den sie treffen konnten.
Seltsamerweise hatte er in diesem Moment nicht einmal Angst. Nur wie brachte man es auf den Punkt, ohne dass es dumm klang und ohne dass man es auf körperliche Weise vermitteln konnte?
„Du weißt doch, dass ich verrückt nach dir bin.“
„Ver-verrückt nach mir?“
Zum ersten Mal ließ das Zittern nach. Es war eine spürbare Veränderung, denn die Matratze hörte auf zu beben. Andreas' angeschwollenes Gesicht war so voller Hoffnung, Angst und Gier, dass Sascha lächeln musste.
„Ich ... vermute mal, dass ... es mich ganz schön erwischt hat“, gestand er ihnen heiser die Wahrheit ein. Das Schwarze Loch verschluckte sich selbst und verschwand. „Und vermutlich blamiere ich mich gerade bis auf die Knochen, aber so ist es nun mal.“
Andreas sagte kein Wort. Aber er sah erneut aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Er blinzelte langsam und für eine Sekunde machte er den Eindruck, als wolle er wieder davonrennen. Stattdessen kroch er nach einer guten Minute des intensiven Blickkontakts unsicher näher und drückte sein Gesicht gegen Saschas Oberarm. Zart, ängstlich und so bedürftig, dass es eine Qual war.
Sascha hätte dankbar sein können, dass er nicht abgeblitzt war oder es nicht danach aussah, als wolle Andreas ihm einen Vogel zeigen.
Aber die ganze Situation ging ihm schrecklich nah. Zu nah, um sich zu freuen oder zu lachen. Er wusste nur, dass sein ... Freund ... immer noch zitterte und sich an ihn drängte. Fest. Verzweifelt. Erschöpft. Auf der Suche nach etwas, das Sascha hoffentlich geben konnte und durfte.
Was nun? Mit den kleinen Zettelchen, die früher in der Schule verteilt wurden und auf denen man ankreuzen konnte, ob man
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