Leben im Käfig (German Edition)
Firmenübernahme und einer Betriebsversammlung abhandengekommen. Wie alle Kleinigkeiten, die Andreas betrafen.
„Bei welchem Zahnarzt warst du denn nun?“, fragte sein Vater noch einmal und rieb sich die Hände. „Du hättest anrufen sollen. Ein Freund aus dem Golf-Club ist ein hervorragender Zahnarzt. Ich hätte dir mit Sicherheit sofort einen Termin besorgen können. Er ist ein großartiger Kerl, der auch nachts seine Praxis für dich aufgemacht hätte.“
„Ich war in der Universitätsklinik“, erklärte Andreas bereitwillig. Es kam selten vor, dass er auf seinen Vater besser zu sprechen war als auf seine Mutter. Dies war eine dieser raren Situationen. „Und ich habe gar nichts ausgesucht. Ivana hat den Termin gemacht. Aber ich denke mal, dass es ganz gut so war. Die bekommen ja dauernd Notfälle rein.“
„Ah, das Klinikum hat einen hervorragenden Ruf“, nickte sein Vater. „In allen Belangen.“
„Und wie geht es jetzt weiter?“, schaltete die Mutter sich wieder ein. Angesichts von Andreas' abweisender Art ihr gegenüber wirkte sie bekümmert. „Musst du noch einmal hin?“
„Ja“, gab er finster zu. „Muss ich wohl.“
Synchron wurden seine Eltern hektisch, holten ihre Smartphones aus Blazer und Jackett und fragten unisono: „Wann genau?“
Um ein Haar hätte Andreas gelächelt. Eine vage Hoffnung keimte in ihm auf. Das Kind in ihm reckte sehnsüchtig den Kopf und fühlte sich angenommen. Wertvoll. Sie wollten wissen, wann er wieder zum Zahnarzt musste. Nicht, dass er sie dabei haben wollte, aber es war gut zu wissen, dass sie zumindest darüber nachdachten.
„Um halb elf.“
Seine Eltern tauschten einen gehetzten Blick aus, runzelten die Stirn und begannen durcheinander zu reden.
„Verdammt, da ist das Meeting mit ...“
„Könntest du nicht ...“
„Nein, das ist dieser verflixte Morgen, an dem eh schon ...“
„Richtig, wenn wir nicht erscheinen, kann es sein, dass ...“
„Wir könnten versuchen ...“
„Nein, das schaffen wir nicht. Wir müssen zu unterschiedlichen Zeiten in zwei Stadtteilen sein. Und eigentlich erwartet man uns beide bei beiden Terminen.“
„Absagen?“
„Unmöglich. Schon der erste Termin ist geplatzt.“
„Wir machen es anders: Ich nehme den Jaguar und du den BMW. Wir fahren getrennt und schicken den Fahrer mit dem Mercedes für Andreas.“
Er konnte nicht anders. Er war enttäuscht. Es war widersinnig, denn er wollte nicht, dass sie ihn begleiteten. Nicht seine Mutter, nicht sein Vater und schon gar nicht beide auf einmal. Und er wusste, dass ihre Termine von großer Wichtigkeit waren. Sie waren keine Menschen, die eben ihre Sekretärin anrufen und sich freinehmen konnten. Mitarbeiter und Kollegen zählten auf sie. Man verschob kein Treffen mit einem wichtigen Firmenrepräsentanten, wenn man Geschäfte machen wollte. Geschäfte, die Andreas' Lebensstil finanzierten.
Kurz, er war nichts anderes gewohnt, er verstand es, aber es tat ihm trotzdem weh.
„Das ist nicht nötig“, sagte er fest und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sascha fährt mich hin.“
„Sascha?“, echoten seine Eltern überrascht, ein weiteres Mal in perfekter Harmonie.
„Ja, er war vorhin hier und hat es angeboten. Ist doch nett von ihm, oder?“
„Oh ja, natürlich. Er scheint ein guter Freund zu sein“, murmelte Margarete und machte ein Gesicht, als hätte man ihr etwas weggenommen.
Hatte man ihr auch. Ihre Illusion. Eine Haushälterin und ein Nachbar hatten eher gewusst, dass ihr Sohn sich quälte, als sie. Man konnte es drehen, wie man wollte, das war ein Armutszeugnis. Das wollte sich keine Mutter eingestehen müssen.
Entsprechend geknickt erhob sie sich und trat einen Schritt zurück: „Kann ich irgendetwas tun? Möchtest du etwas essen? Soll ich etwas kochen? Oder bestellen?“
Andreas zog eine Augenbraue hoch.
Sein knurrender Magen wusste genau, was er wollte, aber ...
„Margarete, der Junge hat ein Loch im Zahnfleisch“, beantwortete sein Vater die Frage für ihn. „Was genau soll er denn essen, solange die Wunde noch nicht geschlossen ist? Pizza? Du weißt doch, dass man bei so etwas nur weiche Kost essen darf.“
Und was du kochst, möchte ich eh lieber nicht essen, fügte Andreas stumm hinzu.
Es klang selbst in seinem Kopf herzlos, aber so war es nicht gemeint. Seine Mutter konnte nun einmal nicht kochen. Sie aß nicht gerne und entsprechend kam nicht viel dabei heraus, wenn sie sich an den Herd stellte. Das war kein Vorwurf,
Weitere Kostenlose Bücher