Leben im Käfig (German Edition)
sondern lediglich eine Tatsache.
Trotzdem plusterte seine Mutter sich unerwartet auf wie ein Ochsenfrosch und fauchte seinen Vater an: „Ich habe dich nicht nach deiner Meinung gefragt, Richard, sondern Andreas! Musst du mich immer hinstellen, als wäre ich dämlich? Ich will ihm doch nur etwas Gutes tun. Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß!“
Vater und Sohn blieben angesichts dieses Ausbruchs der Mund offen stehen. Margarete wurde nie ausfallend.
„Du wirst deinem Vater immer ähnlicher, Andreas. Womit habe ich das verdient? Macht doch, was ihr wollt“, giftete sie und verließ mit erhobenem Kopf das Zimmer.
Ließ sowohl ihren verwirrten Ehemann als auch ihren Sohn, den sie gerade noch hatte umsorgen wollen, zurück.
„Was war denn das?“, rutschte es Andreas heraus und sah seinen Vater fragend an.
Halb erwartete er, keine Antwort zu erhalten, doch nach einer Weile schüttelte Richard den Kopf und sagte leise: „Sie ist überarbeitet. Und sie hat ein schlechtes Gewissen. Haben wir beide.“
Es war selten, dass sein Vater so etwas zugab. So selten, dass es schon fast kostbar zu nennen war.
„Braucht ihr nicht“, wiegelte Andreas automatisch ab, konnte aber nicht vergessen, dass seine Mutter ihn beleidigt hatte, indem sie ihn mit seinem Vater verglich. Was hatte er denn getan? Und was war mit seinen Eltern los? „Ich bin alt genug.“
Ein schwer zu deutender Blick traf ihn von der Seite, unter dem er sich unbehaglich fühlte.
„Ja“, nickte Richard. „Das bist du vielleicht wirklich.“ Er richtete sich auf, wirkte ungleich entschlossener als noch vor wenigen Augenblicken. „Ich gehe mal nach unten und sehe zu, dass ich die Wogen glätte.“
„Mach das.“
Der Vater stand schon in der Tür, als er sich noch einmal umdrehte und sagte: „Das war gute Arbeit, Junge.“
„Was?“
„Du warst draußen. Du hast eine Behandlung durchgestanden. So schlimm das auch ist, aber du hast es geschafft. Du allein.“ Richard klopfte vielsagend gegen den Türrahmen. „Gut gemacht. Ich habe dir immer gesagt, dass es sich auswachsen wird. Ich bin stolz auf dich.“
Er klang so überzeugt, dass Andreas nicht einmal Lust hatte, die Thermosflasche nach ihm zu werfen.
Kapitel 30
Die Landschaft hatte sich während der letzten Stunden verändert. Keine Quantensprünge, aber eben doch Kleinigkeiten, die einem aufmerksamen Beobachter ins Auge fielen.
Wo im Norden häufig Häuser mit Klinker zu sehen waren, wurde ab Hannover Putz für die Fassaden gewählt. Norddeutsches Flachland, über dessen Äcker der Wind heulte, wurde zu den hügeligen Weiten Hessens. Mehr Baumbestand, weniger schwarz-weiße Kühe auf den Weiden, dafür auffallend viele Pferde und Ponys, seitdem er in Kassel in die Regionalbahn umgestiegen war.
Es war nicht mehr weit. Glücklich machte Sascha dieser Umstand nicht. Schon als er in Kassel-Wilhelmshöhe ankam, hatte er das Bedürfnis gehabt, auf der anderen Seite des Gleises in den nächsten Zug gen Norden zu steigen. Er wollte nicht nach Hause fahren. Auch nicht für Katja. Schon gar nicht, da in Hamburg so vieles im Argen lag.
Es ging ihm nicht nur um den stetig wachsenden Berg ungemachter Hausaufgaben, der auf seinem Schreibtisch döste und den er eigentlich hatte mitnehmen wollen.
Es ging um Andreas und die widersprüchlichen, anstrengenden und absolut lohnenswerten Empfindungen, die Sascha wegen ihm durchlebte. Er wäre in diesem Moment sehr viel lieber bei ihm gewesen statt in einem langsamen Zug mit blau-schwarz karierten, viel zu harten Sitzen und defekter Toilette Richtung Heimat zu gondeln. Andreas ging es mit Sicherheit immer noch nicht gut.
Sascha nahm einen Schluck aus seiner Trinkflasche und stützte den Ellenbogen auf die Gummierung des Fensters. Wem machte er etwas vor? Ja, Andreas ging es nicht gut, aber er würde zurechtkommen.
Es ging um ihn selbst. Es ging darum, dass er bei seinem frischgebackenem Freund sein wollte. Weil Sascha bei ihm ein anderer Mensch war und als andere Person wahrgenommen wurde als daheim. War daran irgendetwas schändlich? Dass es ihm besser gefiel, mit seinem schwulen Freund Zeit verbringen und bei seiner nicht schwulenfeindlichen Tante zu leben, als sich mit seinen Eltern auseinanderzusetzen? Bei denen er nicht einschätzen konnte, was ihn erwartete? Vor deren Reaktion er solche Angst hatte, dass seine Finger klamm waren?
Sascha erwartete keine Katastrophen, nicht einmal eine Szene.
Aber er erinnerte sich gut an das
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