Leben im Käfig (German Edition)
die altersschwachen Gleise, dann stand der Zug.
„Dann wollen wir mal“, sprach Sascha sich selbst Mut zu. Er schämte sich nicht für sein Selbstgespräch. Abgesehen von einer jungen Frau, die Kopfhörer in den Ohren hatte, war weit und breit kein anderer Fahrgast in seiner Nähe.
Die Türen glitten auf und entließen ihn auf einen fast gänzlich leeren Bahnsteig. Sein Blick fiel auf das schon lange verwaiste Bahnhofsgebäude, vor dem ein Fahrkartenautomat den Dienst verrichtete, den früher Menschen übernommen hatten. Es war ein wenig trostlos wie auf so vielen Bahnhöfen, die im Laufe der Jahre an Wichtigkeit verloren hatten.
Zu Hause. Warum tat dieser Gedanke so weh?
„Sascha!“, kreischte jemand von der Treppe aus, die in die Unterführung in Richtung des kleinen Ortskerns führte. Schritte wie Hufgetrappel auf rissigem Beton – Katja liebte ihre schweren Stiefel -, dann hing etwas an seinem Hals und drückte ihm die Luft ab.
Ein Wirrwarr blonder und blauer Strähnen wischte ihm durch das Gesicht, während seine Schwester ihn drückte und sofort begann, auf ihn einzureden: „Du bist gekommen. Ich bin ja so froh! Hast du mir auch was mitgebracht? Aus Hamburg? Oh Mann, ich habe dich vermisst. Wir haben für morgen sturmfreie Bude! Ist das geil oder ist das geil? Ich freue mich so. Ich habe superviele Leute eingeladen. Gut, dass du deinen Führerschein endlich hast. Kann passieren, dass du nachts zu Tanke fahren musst, um Bier nachzuholen. Naja, aber sag das nicht zu laut, weil. ...“
„Luft holen“, ermahnte Sascha seine kleine Schwester und drückte sie ein Stück von sich weg. Er betrachtete ihr stupsnasiges Gesicht, die Sommersprossen, von denen er zum Glück verschont blieb, und natürlich ihre wilde Mähne. „Seit wann blau?“
„Was?“ Katja wirkte erstaunt.
„Das letzte Mal war die Rede von grünen Strähnen. Jetzt sind sie blau“, erklärte er grinsend. „Ausgefärbt oder Absicht?“
„Absicht. Das Grün ist nämlich grau geworden. Kannst du dir vorstellen, wie bescheuert das aussah?“
Konnte Sascha ganz gut, aber er wurde abgelenkt. Eine leicht korpulente Frau mit steif gelocktem Haar kam langsam die Treppe hoch und fasste ihn ins Auge. Seine Mutter trug ihren geliebten Mantel, hatte ihn eng um sich geschlungen, als fürchte sie, dass ihr eine Windböe die Kleidung vom Leib reißen könnte. Sie sah sich um und er wusste genau, dass sie sich für Katjas unbeherrschtes Auftreten schämte.
Karen Suhrkamp hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Schwester Tanja. Oder vielleicht gab es sogar gewisse Ähnlichkeiten um Nase und Wangen, aber ihr ganzes Auftreten war so viel zurückhaltender und altbacken-mütterlich, das sie wie Kreaturen von zwei unterschiedlichen Spezies wirkten.
Tanja war der Inbegriff einer coolen Mutter und Künstlerin. Sie war laut, bunt, chaotisch, interessierte sich wenig dafür, was andere von ihr hielten, und machte etwas aus sich. Sie war eine hübsche Frau, wenn auch keine Schönheit.
Saschas Mutter dagegen war in freier Wildbahn auf enervierende Weise leise, im Haus dominant, irgendwie beige-braun, sehr ordentlich und fürchtete nichts mehr als das Gerede der Nachbarn.
Auf alten Fotos überstrahlte ihre Attraktivität die ihrer Schwester bei Weitem, aber davon war nichts mehr übrig. Aus der einst wunderschönen Braut, die Sascha nur von Bildern kannte, war eine graue Maus geworden.
Eine graue Maus, die Angst vor den Ratten im Dorf hatte.
„Hallo, Mama“, sagte er leise und ärgerte sich, dass seine Stimme kiekste.
Das passierte ihm eigentlich schon seit Jahren nicht mehr. Ihm kam der Gedanke, dass diese erste Begegnung wichtig war und das lähmte seinen Kehlkopf.
Seine Mutter nickte, sah zu Boden und schielte dann zu ihrer Tochter, die nicht von Saschas Seite wich: „Hallo. Katja, musst du so ein Theater machen? Man hört dich bis auf den Parkplatz.“
„Macht doch nichts“, entgegnete die fast Sechzehnjährige lachend. „Ist ja keine Ausgangssperre oder sowas. Und ich freue mich halt.“
Zögernd nickte die Mutter ein weiteres Mal und sah Sascha an, wenn auch, ohne ihm direkt in die Augen zu sehen. Allmählich hatte er das Gefühl, das ihm etwas auf der Stirn oder am Kinn klebte.
„Ich freue mich auch, dass du da bist“, sagte sie schließlich, doch er glaubte ihr nicht.
Sie sagte die Worte wie jemand, der wusste, dass es sich gehörte, sich über den Besuch des eigenen Sohnes zu freuen. Nicht wie jemand, der glücklich war.
Mit einem
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