Leben im Käfig (German Edition)
hoffen.
Konsterniert erwiderte er Andreas' Blick, mochte nicht daran glauben, dass ihm verziehen worden war. Oder dass seine Worte zumindest so viel Wirkung erzielt hatten, dass es einen Ausgangspunkt gab, von dem aus sie weitermachen konnten. Jetzt und hier.
„Komm her“, verlieh Andreas seiner stummen Einladung Nachdruck und wedelte mit der Bettdecke. „Komm zu mir. Bitte.“
Dem konnte und wollte Sascha sich nicht widersetzen. Er schlug sich das Bein an der Bettkante an, als er Hals über Kopf auf die Matratze kroch und sich nach kurzem Zögern, einem letzten Blick, vorwärts fallen ließ. Er wurde aufgefangen. Aufgefangen und von Kopf bis Fuß zugedeckt, sodass sie im Halbdunkel lagen.
Sascha zitterte nun offen, war verunsichert und gleichzeitig so dankbar, dass er keine Worte fand. Er stöhnte – winselte -, als Andreas nach seinem Gesicht griff und ihm vorsichtig über die Wange fuhr. Wieder brannten seine Augen, aber nun schämte er sich nicht mehr dafür. Andreas' Körpergeruch schlug ihm entgegen, als er Sascha mit dem Daumen die Tränen abwischte.
Sie waren in ihrem Kokon. Zusammen. Aber noch stand zu vieles zwischen ihnen, als dass Sascha sich ungehemmt an Andreas drängen wollte. Noch fehlten Startschuss und Marschrichtung.
„Ich ...“, raunte Andreas bewegt. „Ich ... so hat noch nie jemand mit mir geredet. So ... so eben.“
In Saschas Kopf schwirrte ein Schwarm Hummeln und prallte auf der Suche nach einem Ausweg an sein Gehirn. Wer hätte gedacht, dass es so anstrengend sein konnte, ein paar Sätze auszusprechen?
Er fühlte sich fiebrig. Krank. Aber es gab Hoffnung.
Andreas streichelte seinen Hals, als wolle er sich überzeugen, dass er real war. Sascha wandte den Kopf und küsste seine Finger.
Würde Andreas reden? Hatte sein eigener Ausbruch ein Gutes? Hatte Sascha genug von sich entblößt, um Andreas Mut zu machen, sich mitzuteilen?
„Ich weiß nicht, ob ich das kann ... ob ich so reden kann wie du, aber ... ich ... möchte so gerne, dass du verstehst“, würgte Andreas hervor.
Jede Silbe schien mit Gewalt aus seinem Körper herausgerissen zu werden. Sascha wurde bewusst, dass Andreas nicht übertrieben hatte: Es hatte wirklich noch nie jemand so offen mit ihm geredet. Wer denn? Seine Eltern, die alles totschwiegen? Geschwister gab es nicht und er war in diesem Haus gefangen, seitdem er ein Kind war.
„Ich will ... ja ... ich vertraue dir doch“, hauchte es Sascha kläglich entgegen. „Aber du verstehst nicht ... ich kenne das nicht. Ich ... es ist ... meine Eltern ... wenn etwas passiert ... sie fragen nicht ... sie ... wenn ich ... es wird dann immer nur noch schlimmer ... und es ändert nichts, wenn ich ... ich kann ihnen ... Dinge sagen, aber es bringt nichts ... meine Mutter ... sie kann das nicht ertragen ... sie lieben mich doch und wenn ich ihnen ... egal. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand sich interessiert ... und eine Antwort will ... und wirklich ... bei mir ...“
Er hielt inne und seufzte.
Sascha war erschüttert und glaubte zum ersten Mal zu sehen, wie tief die Narben gingen, die Andreas verstümmelten. Es war entsetzlich, machte ihm Angst. Sascha selbst war hochgegangen wie eine Silvesterrakete, als der Leidensdruck überhandnahm. Er hatte sich ausdrücken können, Worte gefunden.
Andreas aber stammelte und stotterte und schien kaum zu wissen, wie er seinen Gefühlen Ausdruck verleihen sollte. Es war ein Unterschied, ob man normalerweise nicht gerne redete und die Notwendigkeit nicht sah oder ob man es wirklich nicht konnte.
In Saschas Kopf setzte sich ein Puzzle zusammen, das ihn gleichzeitig faszinierte und schockierte. Bisher hatte er gewusst, dass Andreas krank war. Aber abgesehen davon war er ihm normal vorgekommen. Gesund. Kein bisschen durchgedreht oder verrückt. Jetzt begann er den Zusammenhang zwischen der Phobie und Andreas' Eltern zu erahnen.
Winzige Fragmente eines größeren Bildes, das in den Schatten lag. Er war nicht sicher, ob er dieses tiefschwarze Gemälde der Winterfeldschen Ahnengalerie zu Gesicht bekommen wollte.
Andreas rückte ein paar Millimeter näher an ihn heran, bevor er angestrengt flüsterte: „Es tut mir so leid, dass ... ich wollte nicht ... dich nicht anmachen. Aber wenn ... wenn du so oft getreten wirst ... und immer alle gehen ... und ich war so alleine, Sascha. Es ging mir so schlecht ... und dann kamst du früher als gedacht ... ich wollte dich nicht loslassen ... und du hast gesagt, dass ich sagen darf, was
Weitere Kostenlose Bücher