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Leben im Käfig (German Edition)

Leben im Käfig (German Edition)

Titel: Leben im Käfig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad
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um zu Weihnachten nach Hamburg zu kommen. Dabei waren die Verhältnisse auf den Straßen schlichtweg chaotisch. Wenn selbst die Deutsche Bahn Reisenden riet, daheimzubleiben, war das schon sehr aussagekräftig.
    Außerdem hatte Sascha eine Schwester, die ihn furchtbar gern hatte und unterstützte.
    Um diese Verbündete beneidete Andreas ihn heftig. Er wünschte sich selbst einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester, mit der er sich zusammentun konnte, wenn es bei ihnen zu Hause hart auf hart kam. Oder doch nicht? Wünschte er einem unschuldigen Kind, sich mit der anhaltenden Eiszeit der Familie von Winterfeld auseinandersetzen zu müssen? Nein, eigentlich nicht. Wieder purer Egoismus seinerseits.
    Genau, wie er sich heftig gewünscht hatte, dass Saschas Eltern im Schnee stecken blieben und nicht bei ihrem Sohn ankamen. Dann hätte er seinen Freund vielleicht über die Feiertage zu Gesicht bekommen.
    So aber musste er damit leben, dass Sascha ihm vor Wut schäumend verkündete, dass sie sich vermutlich nicht sehen konnten. Erhaltung der Art, Beschwichtigung der gestrengen Mutter, Rücksicht auf Tanja und ihre Familie; besonders auf die Kinder. Andreas verstand das, aber es machte ihn nicht glücklich.
    Man konnte es nun einmal nicht allen recht machen.
    Wütend auf sich selbst zwang Andreas die trüben Gedanken beiseite und suchte sich einen neuen Fokus. Etwas, auf das er sich konzentrieren konnte.
    Sein Blick fiel auf die Silhouette der Flügeltür zu seiner Linken. Der Anblick fesselte ihn, was er merkwürdig fand. Den Raum, der sich dahinter befand, hatte er seit Jahren nicht betreten – sehr zum Leidwesen seiner Mutter, die ihn in dieser Angelegenheit stets glühend unterstützt hatte. Ja, das gab es auch. Selten. Umso schlimmer war es, dass er sie in dieser Sache ein weiteres Mal enttäuscht hatte.
    Andreas schauderte. Ein Gefühl nervöser Erwartung schlich durch seine Knochen und brachte seine Füße dazu, sich in Bewegung zu setzen. Der Griff der Flügeltür war kühl, doch das Zimmer dahinter strahlte Wärme ab. Eine gleichmäßige Temperatur war wichtig für das gewaltige Instrument, das mit seiner Präsenz den Raum verschlang.
    Eigentlich war das Musikzimmer zu klein für den schwarzen Steinway-Flügel. Es handelte sich um ein großes Modell, das in einen Konzertsaal gehörte und nicht in einen Privathaushalt.
    Zwischen den engen Wänden – nicht eng im architektonischen Sinne, nur im Verhältnis zum Instrument selbst – konnte sich der Klang nicht ausreichend entfalten und verkümmerte wie ein Vogel im Käfig.
    Der Flügel war ein Sinnbild für die dekadente Lebensart der von Winterfelds. Wie viele Kinder wollten Klavierspielen lernen? Dutzende, Hunderte. Aber wie viele Eltern kauften ihren Sprösslingen gleich einen Flügel, statt mit einem vernünftigen Schulklavier vorlieb zu nehmen? Niemand. So handelten nur Richard und Margarete von Winterfeld. Weil es auf Geld nicht ankam und weil man alles, was man anfasste, mit einem gewissen Niveau tun wollte.
    Zögernd trat Andreas näher, setzte sich auf den mit rotem Samt überzogenen Klavierhocker. Das Parkett war glatt unter seinen Wollsocken.
    Vorsichtig, fast zärtlich streichelte er den glänzenden Lack, bevor er die Abdeckung des Flügels anhob. Das Weiß der Tasten strahlte ihm entgegen und erinnerte ihn an den Schnee draußen. In seinen Fingern kribbelte es.
    Er hatte nicht lang Unterricht gehabt; lediglich ein paar Jahre. Danach war es ihm wichtiger geworden, sich zu verkriechen, statt sich mit dem gestrengen Klavierlehrer auseinanderzusetzen.
    Als er den Unterricht aufgab, war seine Mutter sehr enttäuscht gewesen. Sie hatte gehofft, er würde seine Meinung ändern, hatte ihn häufig gedrängt, sich auch ohne Lehrer an die Tastatur zu setzen, doch er hatte sich beobachtet gefühlt. Bedrängt. Ganz so, als würde man von ihm erwarten, dass er neben seiner Tätigkeit als Milchprodukt-Magnat auch noch ein international bekannter Konzertpianist wurde.
    Er konnte die Schlagzeilen fast vor sich sehen: „V om Joghurt-Baron zum göttlichen Interpreten der Scarlatti-Sonaten.“
    Ein von Winterfeld gab sich nicht mit Schumanns Kinderszenen oder dem Klavierbuch des Leopold Mozart zufrieden. Es mussten schon Werke von Liszt, Debussy oder eben die technisch anspruchsvollen Sonaten von Domenico Scarlatti sein.
    Die Tasten fühlten sich fremd unter seinen Fingern an, als Andreas sacht einen Akkord anschlug. Er spitzte die Ohren, wunderte sich für eine

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