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Leben im Käfig (German Edition)

Leben im Käfig (German Edition)

Titel: Leben im Käfig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad
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Sekunde, dass der Flügel perfekt gestimmt war. Natürlich. Ein solches Instrument durfte man nicht verkommen lassen. Wie oft rief Ivana wohl den Klavierstimmer an?
    Er runzelte die Stirn, als er mit einer Hand eine Tonfolge klimperte, an die er sich vage aus dem Unterricht erinnerte.
    Interessant, dass seine Finger, wenn auch steif und unbeweglich, ihren Weg fanden. Man hatte ihm gesagt, er sei talentiert. Aber sagten Musiklehrer so etwas nicht immer? Besonders dann, wenn sie gut dafür bezahlt wurden, Hausbesuche zu machen?
    Weihnachten. Der Flügel. Ein leeres Haus. Und auf dem schwarzen Schellack, direkt über dem Steinway-Schriftzug, spiegelten sich die Lichter eines Christbaums.
    Andreas' Nacken verkrampfte sich, die Muskeln in seinen Oberarmen folgten, bis seine Fingernägel zitternd über die Tastatur kratzten. Er trat nach dem Dimmer der Leuchte neben dem Flügel, um die Finsternis aus seinem Kopf zu vertreiben – und die kleinen Punkte des nachbarlichen Weihnachtsbaums von der Oberfläche des Instruments.
    Wie von unsichtbaren Fäden gezogen stand er auf, schlurfte hinüber zu dem Schrank, in dem die Noten säuberlich aufgereiht standen. Gebundene Sonderausgaben, die ohne Sinn und Verstand angeschafft worden waren, lange bevor er die darin enthaltenen Werke spielen konnte.
    Er wusste erst, was er gesucht hatte, als er es fand. Das Quempas-Heft. Eine Sammlung teilweise recht altertümlicher Weihnachtslieder in Sätzen, die er bewältigen konnte.
    Andreas setzte sich wieder, blätterte durch die Noten und blieb ziellos bei einem Stück hängen, das ihm leicht genug für einen Versuch schien.
    Die ersten Tonfolgen perlten langsam und bar jeden Rhythmus an ihm vorbei, musste er sich doch daran erinnern, wie man den Bassschlüssel für die linke Hand las. Doch nach einer Weile folgten seine Augen den schwarzen Tupfen der Noten, erfassten sie als Ganzes, statt sie mühsam einzeln zusammenzusuchen. Es klang recht ordentlich, nach Hausmusik und Besinnlichkeit.
    Nach einer Weile wechselte er zum nächsten Stück, erinnerte sich daran, dass er das Klavierspiel einmal als tröstlich empfunden hatte. Wie lange war das her? Ein Jahrzehnt in etwa.
    Während seine Finger über die Tastatur huschten und der Gesang des Flügels die Stille von ihm fernhielt wie ein Lichtkegel, wanderten seine Gedanken ungefragt und frei wie selten zu seinen Eltern. Es war leichter, sich dem Schmerz zu stellen, während seine Hände etwas zu tun hatten und die Anwesenheit im Musikzimmer ihn daran erinnerte, dass er allein war. Nie hätte er es gewagt, den Flügel anzufassen, solange sich jemand im Haus aufhielt und sein Verhalten kommentierte.
    Das Grundproblem war nicht das Weihnachtsfest oder der religiöse Gedanke dahinter. Es ging ihm um etwas anderes. Es ging darum, dass er sich fragte, was er getan hatte, um so viel Missachtung zu verdienen. Es ging darum, dass seine Krankheit – und Sascha hatte ihn daran erinnert, dass es sich wirklich um eine Krankheit handelte, und nicht etwa um einen Spleen -, ignoriert wurde, während seine Mutter sofort Hilfe bekam.
    Es ging um die Frage, warum er es nicht wert war, dass man sich mit seinen Problemen auseinandersetzte. Es ging darum, dass er auf der Strecke blieb und schlucken musste. Nie fordern durfte, sondern sich mit den Resten begnügen musste, die andere ihm überließen.
    Es ging darum, dass er ein Mensch war, der weder Aufmerksamkeit noch Zuspruch, Hilfe oder Liebe verdiente. Er erfüllte die an ihn gestellten Erwartungen nicht, also bekam er nichts zurück. Er verdiente nichts und dieses Wissen tat schrecklich weh.
    Andreas blätterte erneut um, wählte das nächste Weihnachtslied und spielte es, während er sich eingestand, dass er Sehnsucht hatte. Nach Sascha, nach seinen Eltern, nach seinem Großvater, nach irgendwem, der an diesem Abend bei ihm war und ihm zeigte, was es bedeutete, sich zugehörig zu fühlen.
    Ob er an Gott glaubte oder nicht, war nicht der Punkt. Der Punkt war, dass er wusste, dass überall in der Nachbarschaft die Menschen zusammen unter dem Baum saßen und feierten. Nur er war allein und musste damit zurechtkommen. Denn eine Alternative gab es nicht.
    Natürlich konnte er theoretisch zum Telefon greifen und seinen Freund anrufen. Ihn anflehen, zu ihm zu kommen. Wenigstens für ein paar Minuten.
    Aber sollte er sein Geheimnis lüften? Sascha in eine Situation bringen, in der er sich zwischen ihm und seiner Familie entscheiden musste? Eventuell fürchterlichen

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