Leben im Käfig (German Edition)
seine Mutter eisig. „Deine Schwester hat gestern versucht, am Rosengatter aus dem Haus zu klettern und ist dabei natürlich heruntergefallen. Und als wir zu ihr in den Garten gelaufen sind, hat sie uns angeschrien. Nachts um 11. Sämtliche Nachbarn haben an den Fenstern geklebt. Sie hätte sich sonst was tun können. Wie kommst du dazu, ihr solch einen Unsinn einzureden?“
Für den Moment konnte Sascha mit den Vorwürfen gar nichts anfangen. Katja war gefallen? Aus dem ersten Stock? „Was ist mit Katja?“
„Ich habe dich etwas gefragt, Sascha.“
„Und ich will wissen, ob es meiner kleinen Schwester gut geht! Vorher sage ich gar nichts.“ Ihm war kalt. Die Bemerkung vom Vortag über das Rosengatter hatte er nur so dahin gesagt. Er selbst hatte häufig diesen Fluchtweg aus dem oder auch ins Haus gewählt. Ihm war nie etwas passiert. Allerdings war er auch ungleich größer und kräftiger als Katja.
„Wie schön, dass dich das interessiert.“ Seine Mutter war sehr aufgebracht. So bissig war sie normalerweise nicht. Er hörte sie tief durchatmen. Etwas ruhiger sagte sie: „Es ist alles in Ordnung. Ihr ist nichts passiert. Abgesehen davon, dass sie sich wie eine Furie aufgeführt und uns an den Kopf geworfen hat, dass du schon immer recht gehabt hättest.“ Sofort wurde ihre Stimme wieder lauter: „Ist es nicht schon schlimm genug, dass wir nicht mehr miteinander auskommen? Musst du jetzt auch noch deine Schwester gegen uns aufhetzen?“
„Ich hetze sie nicht auf! Das schafft ihr ganz alleine. Überhaupt, worum geht es hier? Warum setzt ihr sie so unter Druck, seitdem ich weg bin? Habt ihr Angst, dass sie auch schwul wird? Ich will dir nicht deine Illusionen nehmen, aber Katja steht schon auf Männer.“
„Lass es bleiben! Hör auf, uns als schwulenfeindlich hinzustellen. Das hier hat nichts mit dir und deinen Vorlieben zu tun. Das hier hat etwas damit zu tun, dass du einen schlechten Einfluss auf deine Schwester ausübst.“
Die Worte trafen Sascha wie giftige Pfeile. Schlechter Einfluss. Gut zu wissen, welches Bild die eigenen Eltern von einem hatten.
„Sag mal, geht’s noch? Was erwartest du denn von mir, wenn sie mich anruft und mir erzählt, dass ihr sie praktisch einsperrt? Was soll das alles? Wollt ihr an ihr beweisen, dass ihr als Eltern nicht total versagt habt? Ich verrate dir mal ein Geheimnis: Das habt ihr schon und spätestens zum Schulanfang wird es jeder wissen. Ich habe keinen Bock als Sündenbock für eure Unfähigkeit herzuhalten.“
Mit diesen Worten unterbrach Sascha das Gespräch, bevor seine Stimme ernstlich zu zittern begann. Er würde sich nicht die Blöße widersprüchlicher Gefühle geben. Es war eh schon schlimm genug, dass er sich so furchtbar fühlte. Seine Eltern hatten es nicht geschafft anzurufen, um sich nach ihm zu erkundigen. Aber ihm Vorwürfe machen, ihn angreifen, ihn als schlechten Einfluss bezeichnen, das konnten sie. Sie schrieben ihn ab, wollten ihre kleine Idylle retten. Katjas rebellisches Wesen passte nicht ins Bild. Dennoch war es einfacher, ihm – dem schwarzen Schaf – die Schuld in die Schuhe zu schieben, als bei sich selbst zu schauen. Schlechter Einfluss. Deutlicher ging es nicht. Sollte es in Sascha je Hoffnung gegeben haben, dass er in sein Elternhaus zurückkehrte, starb sie in diesem Augenblick einen elendigen Tod.
Nach dieser verbalen Ohrfeige – dass er selbst nicht charmant gewesen war, konnte er gemäß des Tunnelblicks eines verletzten Tieres nicht sehen – schlich er nach oben in sein Zimmer.
Er wollte sich von diesem Gespräch nicht zu Boden ringen lassen. Er war kein kleines Mädchen, das nach einem solchen Zwischenfall in Tränen ausbrach. Im Grunde hatte sie ihm nichts an den Kopf geworfen, was er nicht vorher schon gespürt hatte. So viel zu Tanjas Theorie, dass seine Eltern lediglich nicht wussten, was sie sagen sollten. Vielleicht stimmte das sogar.
Aber es gab eine Grenze zwischen dem, was man mit dem Verstand erfassen und relativieren konnte und dem, was auf direktem Weg am Gehirn vorbei in die Magengrube traf. Diese unsichtbare Linie war hier und jetzt überschritten worden. Wenn seine Mutter eine Welt brauchte, in der sie alles richtig gemacht hatte und Katja lediglich unter seinem schlechten Einfluss zickig wurde, dann musste sie eben daran glauben.
Er würde sich deswegen nicht unter der Bettdecke zusammenrollen und winseln. Auf das Bett legen und finster an die Decke starren, das war in Ordnung.
Sascha runzelte
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