Leben im Käfig (German Edition)
durchzuschlafen.
Seitdem war der Sog da und drängte sich unaufhaltsam in seinen Tag. Die Frage, ob Sascha heute wiederkommen würde, ließ sich nicht mehr beiseiteschieben; von anderen Vorstellungen ganz zu schweigen. Andreas war nicht so verwirrt oder innerlich verbrannt, als dass ihm nicht bewusst gewesen wäre, dass seine Sehnsüchte weder gut noch realisierbar waren. Er wollte nur so gerne mehr.
“Kommst du bitte mit nach unten?“
Wenig begeistert löste Andreas den Blick von seiner Pinnwand und drehte sich auf seinem Schreibtischstuhl halb um. Wie lange seine Mutter schon in der Tür stand, vermochte er nicht zu sagen. Er hatte vergessen abzuschließen. Wochenende. Sie war ausnahmsweise daheim. Normalerweise führte dieser Umstand dazu, dass er sich noch tiefer in sein Heiligtum verkroch.
Heute nicht. Bösartig hin oder her, aber heute würde es ihm ein diebisches Vergnügen bereiten, seinen Eltern im verhassten Esszimmer Gesellschaft zu leisten. Solange sich niemand auf ihn konzentrierte, kam Andreas mit dem repräsentativen Raum halbwegs zurecht. Beängstigend wurde es nur, wenn sie ihn ins Visier nahmen. Heute würden sie jedoch die Beute sein, nicht er.
“Sicher“, fletschte er die Zähne und stand auf. Oh ja, einer dieser Tage, an denen man sich auf Kosten anderer amüsieren konnte.
Sie wurden bereits erwartet. Das schaurige Samarah-Porzellan auf einer cremefarbenen Tischdecke, dezent geschliffene Kristallgläser und ein Gesteck aus weißen Rosen in der Mitte des Esstischs. Mit Goldfäden durchzogene Stoffservietten auf den Tellern und das akkurat polierte Familiensilber an der Tischkante ausgerichtet.
Wann immer Andreas dieses Aufgebot sah, hatte er den Wunsch, an der Tischdecke zu ziehen und die kitschige Pracht in Scherben aufgehen zu lassen. Es war lächerlich, angesichts einer Familienzusammenkunft so viel Aufwand zu betreiben. Vielleicht hätte er es anders beurteilt, wenn seine Mutter sich die Mühe gemacht hätte, eine einladende Atmosphäre zu schaffen.
Aber nein, es war Ivanas Aufgabe, die unregelmäßigen Mittagessen im trauten Familienkreise auszurichten. Sie kochte, sie deckte den Tisch, sie bestellte die Blumen, sie wusch die Tischdecke und polierte das Besteck. Eine Auftragsarbeit, nicht mehr und nicht weniger und genauso kalt.
“... in diesen Zeiten auf Effizienz konzentrieren. Wir haben gerade erst eine Weltwirtschaftskrise überstanden und jeder rational denkende Mensch weiß, dass die Nächste nicht lange auf sich warten lassen wird. Was glaubst du, wie lange du meine Tochter noch von Kopi Luwak-Kaffee ernähren kannst, wenn Deutschland fünf Millionen Arbeitslose hat, Richard?“
Gustav von Winterfeld saß in einer Haltung am Kopfende des Tisches, die deutlich zeigte, dass die Villa früher ihm gehört hatte; gelassen und selbstverständlich auf dem thronartigen Lehnstuhl mit alt-englischem Stoffbezug. Sein Gesicht war hager und die zahlreichen Runzeln und Falten erzählten die Geschichte eines Mannes, der zeit seines Lebens hart gearbeitet hatte.
Wie so oft, wenn er sich mit seinem Schwiegersohn unterhielt, lag etwas Eisiges in seinen blauen Augen. Er sprach es nie aus, aber jeder im Raum wusste, dass er Richard nicht für den passenden Partner für seine einzige Tochter hielt.
“Nun, wir erschließen gerade einen neuen Markt in Südosteuropa und die Kluft zwischen Armen und Reichen wird immer größer. Wir werden immer einen Kundenstamm haben, der uns gewisse ...“
Ein uncharakteristisches Zögern verfremdete Richards Stimme, die sofort abbrach, als der ehemalige Hausherr die Hand hob und in Richtung der Doppeltüren nickte, durch die Andreas und seine Mutter eingetreten waren.
Das Eis in den Augen des Großvaters taute angesichts seines Enkelsohns: “Andreas, steh da nicht herum wie ein Schaf. Setz dich zu uns und hör zu. Da kannst du noch etwas lernen.“ Übersetzt aus dem Winterfeldschen Wörterbuch hieß das: “Setz dich her, damit ich dir beibringen kann, was dein Vater nicht in seinen hohlen Schädel bekommt.“
“Hallo, Opa“, grinste Andreas und nahm seinen Platz gegenüber seines Großvaters ein, den er an normalen Tagen mied. Er war wahrlich kein guter Sohn. War er mit seinen Eltern allein, hasste er das Esszimmer und weigerte sich meistens, mit ihnen zu essen. Sobald Gustav von Winterfeld zu Besuch war, genoss er heimlich den Druck, den dieser auf die Eltern ausübte. Irgendetwas in ihm fand es belustigend, dass es auch für seine
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