Leben im Käfig (German Edition)
mal Tacheles. Über was wolltest du reden?“
Er hatte keine Geduld mit seiner Mutter. Das merkte er, als sie ihn lange musterte, als wüsste sie nicht, wie sie ihr Anliegen formulieren sollte. Es nervte ihn, denn er wollte allein sein. Allein mit seinen Gedanken und den neuen Gefühlen, die ihm noch fremd waren. Schließlich sagte sie sanft: „Ich möchte wissen, wie es dir geht. Was du so machst. Ob du etwas brauchst. Du bist in den letzten Wochen so anders.“
Anders? Ja, natürlich war er anders.
Er schlief nicht mehr bis zum Mittag und tapste nicht mehr durch das Haus wie ein ungewaschener Lurch. Er ging zum Unterricht, schon zwei Tage in Folge. Er verbrachte viel Zeit im Keller und hatte entschieden, dass er in keinem Schweinestall Hof halten wollte. Das war gut, oder? Es fühlte sich zumindest richtig an. Oder ahnte sie etwas? Ahnte sie, dass sich bei ihm etwas ganz Erhebliches tat?
Gott, nein, das durfte nicht sein. Das konnte nicht sein.
„Was meinst du damit?“, fragte er heiser. Die Aussicht auf die Antwort ließ ihn tief in die Polsterung des Sessels greifen. Sein Geheimnis durfte nicht auffliegen. Über die Konsequenzen durfte er nicht einmal nachdenken.
„Ich weiß es nicht“, gab sie zu. „Ich weiß, du redest nicht gerne darüber, aber geht es dir besser? Irgendwie?“
Die Frage schien unverfänglich genug, um sie ehrlich zu beantworten: „Ich denke schon. Ein bisschen zumindest.“
Das erste echte Lächeln erschien auf ihrem Gesicht: „Das ist schön. Wirklich. Es wird deinen Vater freuen, das zu hören. Aber warum jetzt?“
Spöttisch schüttelte Andreas den Kopf, überspielte damit seine innere Unruhe: „Warum nicht jetzt? Ihr wartet doch schon lange genug darauf. Übrigens, versprich dir nicht zu viel. So viel hat sich nun auch nicht geändert.“
„Das erwartet ja auch keiner. Aber sag mal, hat es etwas mit dem Jungen zu tun? Von nebenan? Er kommt öfter her, oder?“
Da war sie. Die Frage aller Fragen. Die, die er nicht beantworten wollte, aus Angst, sich in seinem Enthusiasmus zu verraten. Etwas in ihm wollte verstockt abwehren und alles abstreiten. Aber das wäre noch auffälliger gewesen.
„Ab und zu“, erklärte er betont gelassen. „Wir zocken dasselbe Spiel. Er ist cool.“
„Können wir irgendetwas tun, damit er öfter herkommt?“, warf Margarete von Winterfeld gierig dazwischen. „Wenn es dir hilft, wenn er hier ist? Dann sollte er doch so oft wie möglich kommen, oder? Vielleicht wäre er bereit, dir Nachhilfestunden zu geben.“
Andreas lachte ungläubig auf: „Wie stellst du dir das vor? Du willst ihn bezahlen, damit er Zeit mit deinem nutzlosen Blag verbringt?“
Wieder einmal war er von der materialistischen Denkweise seiner Eltern entsetzt. Hatte seine Mutter sich nicht schrecklich aufgeregt, als sein Vater die Escort-Dame anschleppte? Wollte sie ihm jetzt einen Gesellschafter organisieren? Über Nachhilfe, die er nicht brauchte und die ihm nichts brachte? Gut, in diesem besonderen Fall war die Vorstellung verlockend, aber nichtsdestotrotz falsch.
„Natürlich nicht, aber ich könnte ja mal mit ihm ...“
„Nein“, fuhr er mit fester Stimme dazwischen. Mit langen Schritten näherte er sich seiner Mutter: „Hör mir gut zu. Man kann nicht alles und jeden kaufen. Halt dich da raus. Ich will nicht, dass du mit ihm sprichst. Verstanden? Ich habe keine Lust auf Mitleid oder Zugzwang. Wir sind Kumpel. Er kommt, wenn er Bock hat. Das reicht mir.“
Hoffnungslos begehrte sie noch einmal auf: „Aber es kann doch nicht schaden, wenn ...“
„Doch, tut es“, unterbrach er sie wieder. „Ich kenne Sascha. Er würde hinterher nie wiederkommen. Versprich mir, dass du nichts unternimmst. Versprich es mir.“
Bevor sie antworten konnte, klopfte es an der Tür. Überrascht sahen sie sich um; besonders Andreas, der Saschas rigorose Art zu klopfen mittlerweile kannte. Anscheinend hatten sie gefangen in ihrer Diskussion die Klingel nicht gehört.
Oh verdammt, hoffentlich steht er noch nicht lange vor der Tür, dachte er bei sich, bevor er rief: „Komm rein.“ Noch bevor Sascha den Raum betrat, wandte Andreas sich wieder an seine Mutter: „Versprich es mir.“
Er brauchte diese Gewissheit. Noch nie hatte seine Mutter ein Versprechen ihm gegenüber gebrochen. Meistens gab sie keine. Meistens blieb sie in ihren Aussagen so vage, dass ihr eine Hintertür blieb. Jetzt aber musste sie schwören. Sonst würde er immer zappelig sein und vor dem Tag
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