Leben im Käfig (German Edition)
bissigen Sprüchen ab.
Enge Freundschaften schloss er nicht, dafür war er nie der Typ gewesen. Aber bald hatte er einen großen Kreis an Bekannten, die ihn gern um sich hatten. Das war nicht selbstverständlich, denn viele von seinen Mitschülern gingen seit Jahr und Tag zusammen zur Schule. Sie mussten ihn nicht aufnehmen, sich nicht für ihn interessieren. Sie brauchten ihn nicht, hießen ihn aber dennoch willkommen. Das reichte ihm.
Trotzdem tat er sich schwer, sich auf ihre Einladungen oder Wochenendplanungen einzulassen.
Saschas familiäre Situation war schwieriger. Der Zauber des “großen“ Bruders rieb nach einer Weile ab, sodass Sina und Fabian zwischenzeitlich richtig nervig wurden.
Tanja gab sich zwar Mühe, es allen recht zu machen, aber das konnte sie neben dem Haushalt, ihrem Beruf und der Abwesenheit von Aiden nicht stemmen.
Nachdem seine Mutter Katja bei einem Gespräch das Telefon aus der Hand genommen hatte, hatte er wieder sporadischen Kontakt zu seinen Eltern. Aber er machte sich nichts vor. Ihr Verhältnis zueinander war wie ein nicht zugerittenes Pferd, bei dem man nie wusste, was als Nächstes passierte. Weder war er in der Lage, die nächste Reaktion seiner Eltern zu erahnen, noch konnte die Suhrkamps andersherum sein Verhalten voraussagen.
Die Chemie stimmte nicht. Es stand etwas zwischen ihnen, das er nicht greifen konnte und nicht verstehen wollte.
Der sichere Hafen Andreas wurde für ihn wichtiger, als ihm je ein Freund gewesen war.
Sascha redete nur sehr selten über die Probleme in seiner Familie, aber wenn er etwas anklingen ließ, wenn er gereizt und wohl auch enttäuscht war, wenn er das Gefühl hatte, vor Frustration schreien zu müssen, hatte er stets das Gefühl, dass Andreas ihn verstand.
Verstand, aber nie verurteilte. Tröstete, aber nie etwas sagte.
Andreas akzeptierte ihn und das war genug. Es war sogar so viel, dass Sascha nicht merkte, wie viel Zeit er in der Winterfeld-Villa verbrachte. Abnorm viel Zeit. Es wurde zur Selbstverständlichkeit und über das, was selbstverständlich ist, denkt man bekanntlich nicht nach.
Ihre Freundschaft wuchs. Ohne große Worte. Ohne hohle Versprechen. Ohne geteilte Geheimnisse. Sascha hätte es wohl abgestritten, aber es waren von beiden Seiten Bedürfnisse im Spiel, die sie gegenseitig gut abdecken konnten. Es passte schlicht. Sie hatten einen Rhythmus, sie teilten denselben Humor und regten sich über dieselben Dinge auf. Sie fanden Ruhe in der Gegenwart des anderen.
Kurz, es war alles bestens. Sie lebten eine der Freundschaften, die über Jahrzehnte Bestand haben können, wenn man sie richtig pflegt. Geben und Nehmen. Nehmen und Geben. Gleichgewicht.
Und dann brachten ein Missverständnis und die Schwerkraft alles durcheinander.
* * *
Gemeinsam verließen die drei Jungen das Schulgebäude; ihre Schritte beschwingt von der Aussicht, dass das Wochenende vor ihnen lag und sie den Tempel der Gelehrsamkeit zweieinhalb wunderbare Tage lang nicht sehen mussten.
Sie gaben ein eigenartiges Gespann ab.
Brain lief mit federnden Schritten in der Mitte und trug feixend die frischen Farben in seinem wirren Schopf spazieren. Auf das Veilchen in seinem Gesicht schien er fast genauso stolz zu sein wie auf seine blutroten Strähnen.
Erbse hingegen interessierte sich nicht für Optik. Mit hängenden Schultern und in unspektakulären Klamotten schlurfte er neben ihnen her. Manchmal bekam man bei ihm den Eindruck, dass er zu schnell gewachsen war und mit seinen langen Gliedmaßen nichts anfangen konnte.
Sascha hatte dieses Problem trotz seiner beachtlichen Größe nicht. Er achtete sehr auf seine Erscheinung; so sehr, dass er bei seltenen Gelegenheiten regelrecht eitel erschien. Eitel oder zumindest sehr kritisch, was sein Äußeres anbelangte.
„Wo hast du das blaue Auge her?“, fragte Sascha, als sie in Richtung Bushaltestelle gingen. Er hatte sich schon den ganzen Morgen lang danach erkundigen wollen, war jedoch nicht dazu gekommen.
Brain lachte auf und machte einen kleinen Sprung, als wolle er die fehlende Körpergröße durch Energie kompensieren: „Uns sind ein paar HSV-Fans in den Hals gelaufen. In unserer Kneipe! Die Jungs sind frech geworden, also haben wir ihnen gezeigt, dass wir Jolly Roger nicht umsonst auf unserer Flagge spazieren tragen.“
„Irgendwann bricht dir noch einmal jemand die Nase“, warf Erbse rau ein.
„Manche Opfer müssen gebracht werden“, zuckte Brain die Achseln und zwinkerte Sascha
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