Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
»Und wenn von denen keiner passt, wie hoch schätzen Sie unsere Chance ein, passende zu finden? Ich meine, woanders in der Stadt?«
»Ich würd sagen, so gegen null, aber So Gegen hat die Stadt noch nicht verlassen, falls ihr versteht, was ich meine.«
Wir starren ihn verständnislos an.
Er gluckst leise. »Will sagen, es ist zu bezweifeln, aber möglich ist alles. Immerhin habt ihr eine mächtig wichtige Aufgabe. Den Sinn des Lebens rausfinden und so.«
»Danke«, sage ich überschwänglicher, als mir zumute ist. »Wir bringen Ihnen die Kiste gleich zurück.«
»Keine Eile«, sagt er und wedelt mit der Hand durch die Luft. »Wie lang ist es denn überhaupt noch bis zu deinem dreizehnten Geburtstag? Ich schätze, du bist der Jeremy Fink von der Kassette?«
»Knapp einen Monat«, antworte ich, während wir schon auf dem Weg zur Tür sind. Es fällt mir schwer, mir meine Enttäuschung nicht anhören zu lassen.
»In einem Monat kann’ne Menge passieren«, ruft er uns nach. »Ihr müsst nur fest dran glauben!«
»Und ob«, sagt Lizzy. »Amen.«
Als wir draußen sind, erkläre ich ihr: »Soweit ich weiß, brauchst du nicht mit ›Amen‹ antworten, nur weil jemand sagt, du sollst an etwas glauben .«
Sie zuckt die Achseln. »Woher soll ich das wissen? Das Einzige, was ich über Religion weiß, ist, dass das Wort ›Reue‹ rückwärts gelesen in ›Fegefeuer‹ drinsteckt, und das hab ich mal in der Sonntagszeitung auf der Rätselseite gefunden. Komm, wir setzen uns in den Park und probieren die Schlüssel aus.«
Wir biegen um die Straßenecke und gehen in den Park, in dem wir schon als Kleinkinder gespielt haben. Jetzt, da wir ein Ziel vor Augen haben, fühlt sich das ganz anders an. Ich frage mich, ob die Männer, die auf den Bänken Zeitung lesen, oder die Frauen, die ihren Kindern beim Spielen im Sandkasten zuschauen, spüren können, dass wir etwas Wichtiges vorhaben.
Wir lassen uns unter einem Baum in der Nähe des Spielplatzes nieder, wo das Gras gleichmäßig niedergetreten ist. Ich kippe die Schlüssel auf dem Boden aus, wo sie einen Haufen bilden. Keinen sehr großen. Höchstens dreißig Schlüssel. Wir verabreden, dass wir jeden Schlüssel in jedem Schlüsselloch ausprobieren und ihn danach, falls er nicht passt, in die Zigarrenkiste zurücklegen. Auf diese Weise können wir nicht versehentlich zweimal denselben erwischen.
Lizzy nimmt den ersten Schlüssel, und bevor sie ihn in ein Schlüsselloch steckt, hält sie beide Hände darüber und flüstert dazu etwas.
»Was machst du da?«, will ich wissen.
»Ich spreche ein kleines Bittgebet, damit wir Glück haben«, antwortet sie. »Ich hab vielleicht keine Ahnung von Religion, aber das heißt nicht, dass wir nicht beten können. Zu den Mächten des Universums oder so was, verstehst du. Na los, mach einfach mit.«
»Was soll ich denn sagen?«
Sie überlegt einen Augenblick und sagt dann: »Wie wäre es mit: O Herr aller verschlossenen Dinge, bitte mach, dass dieser Schlüssel Jeremy Finks Kassette aufschließt.« Nach einer Pause ergänzt sie: »Amen.«
Ich schaue mich um und vergewissere mich, dass niemand, der in der Nähe sitzt, mitgehört hat. »Warum sagst du das nicht allein auf? Schließlich wollen wir den Herrn aller verschlossenen Dinge nicht durcheinanderbringen, indem wir dasselbe Gebet mit zwei verschiedenen Stimmen sprechen.«
»Wie du meinst«, erwidert sie und betet lauter in Richtung des Schlüssels, als mir lieb ist. Dann probiert sie ihn in allen vier Schlössern aus – ohne Erfolg. Mit jedem Schlüssel führen
wir die gleiche Prozedur durch. Keiner passt. Die meisten lassen sich nicht mal in die Öffnung stecken. Eine Handvoll gleitet immerhin in eine Ausbuchtung, bewegt sich danach aber keinen Millimeter weiter. Bis wir beim letzten Schlüssel angelangt sind, ist aus Lizzys Gebet ein gemurmeltes HerrSchlüsselKassetteAmen geworden. Diesmal hänge ich mein eigenes, stummes, kleines Amen dran, aber es hilft nicht. Larrys Zigarrenkiste ist jetzt wieder voll und ich muss U-Bahn fahren. Puh.
Kapitel 4: Der Flohmarkt
Lizzy geht in den Laden und bringt die Schlüssel zurück, während ich draußen meinen Mut zusammenkratze. Ich bin nicht stolz darauf, dass ich noch nie ohne Begleitung eines Erwachsenen mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren bin, aber normalerweise ist alles, was ich brauche, zu Fuß erreichbar.
Die Glöckchen bimmeln, als Lizzy zurückkommt, und sie beginnt, die Straße entlang zur U-Bahn zu marschieren.
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