Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
von der gelben Linie auf den Zug und hören einem kleinen, vierschrötigen Mann mit Stoppelhaaren zu, der Gitarre spielt und von verlorener Liebe singt. Er sieht eher aus, als sollte er auf einem Footballfeld stehen, anstatt in einer U-Bahn-Station zu singen. Ich kehre ihm erst den Rücken, als das grelle Kreischen des einfahrenden Zugs seinen Gesang übertönt. Lizzy packt mich am Arm und wir drängeln uns durch die Türen.
Ich klammere mich etwas fester an eine Stange, als wahrscheinlich nötig ist, und versuche, meinen Kopf zu beschäftigen, indem ich meinen Blick starr auf die nächste Reklame richte. KEINE ERWACHSENENAKNE MEHR. Erwachsene haben Akne? Ich mustere Lizzy und überlege, ob sie an dasselbe denkt wie ich – an das Auftauchen von Lizzys erstem Pickel letzte Weihnachten, besser bekannt als Der-Pickel-derso-groß-war-dass-er-Manhattan-verschlang. Sie schaut mich an, schaut das Poster an, dann macht sie ein böses Gesicht. Aber als sie denkt, ich würde es nicht merken, hebt sie die Hand und reibt sich damit die Wange. Bei der richtigen Beleuchtung kann man immer noch einen schwachen roten Flecken an der Stelle erkennen, wo sie wie eine Wilde mit einer
Nasenhaarpinzette auf den Pickel losgegangen ist. Danach hat Mom Lizzy das Versprechen abgenommen, mit allen dringenden Schönheitsproblemen zu ihr zu kommen. Lizzys Vater ist nicht zu gebrauchen, wenn es um Mädchenkram geht. Er war es, der ihr die Pinzette gegeben hat!
»Sind wir schon da?«, frage ich, als der Zug bremst und anhält.
»Das ist erst die zweite Station«, sagt sie.
»Sie kommt mir wie die vierte vor.«
»Ist sie aber nicht.«
»Bist du …«
»Ja! Ich bin mir sicher! Hör auf, dich so anzustellen!«
»Ich stelle mich nicht an«, nuschle ich.
Lizzy wühlt in ihrer Tasche. »Hier«, sagt sie und drückt mir eine Schokokaramelle in die Hand. »Damit geht’s dir wahrscheinlich besser.« Die halb geschmolzene Karamelle ist von einer dünnen Fusselschicht aus der Tasche bedeckt. Ich stecke sie trotzdem in den Mund. Der leckere Geschmack bewirkt tatsächlich, dass es mir besser geht.
Ein großer Mann mittleren Alters, der neben uns steht, fängt leise zu lachen an, und ich drehe mich zu ihm um. Er deutet mit dem Kopf auf Lizzy und sagt: »Du und deine Schwester, ihr erinnert mich daran, wie meine Schwester und ich früher waren. Was haben wir uns gestritten! Aber wir würden alles füreinander tun.«
»Sie ist nicht meine Schwester«, antworte ich rasch. Ich werfe Lizzy einen Blick zu, aber sie scheint die Unterhaltung nicht mitzubekommen. Sie starrt mit schmerzvoller Miene auf das Plakat mit der Erwachsenenakne.
Der Mann zieht verdutzt die Augenbrauen hoch, dann stößt
er mich mit dem Ellbogen an und sagt wissend: »Oh, sie ist dein Schatz!«
»Nein, ist sie nicht!«, rufe ich aus, und diesmal lenke ich nicht nur Lizzys Aufmerksamkeit auf mich, sondern auch die aller Umstehenden. Ich fühle, wie meine Wangen zu brennen beginnen. Es ist ja nicht so, als hörte ich das zum ersten Mal. In der Schule mokieren sich andere Kids pausenlos über uns. Aber trotzdem! Von einem Wildfremden! In der U-Bahn!
» Jetzt sind wir da«, sagt Lizzy, packt mich beim Arm und schubst mich in Richtung Tür. Ich werfe einen Blick zu dem Mann zurück und er zwinkert mir zu.
ARGH!
»Es war doch gar nicht so schlimm, oder?«, sagt Lizzy, als wir über die lange Treppe ins helle Sonnenlicht hinaufsteigen.
»Eigentlich nicht«, murmle ich. Ich schwinge meinen Rucksack vor die Brust, um mich zu vergewissern, dass niemand einen Reißverschluss geöffnet hat, während ich gerade nicht hingeschaut habe. Der Typ könnte mich ja auch abzulenken versucht haben und inzwischen hat sich sein Komplize an meinen Rucksack herangemacht. Ich überprüfe sämtliche Fächer, aber alles ist sicher verstaut (einschließlich der Tüte Lakritz-Razzles, von der ich nicht mehr wusste, dass sie im Rucksack ist – so was ist immer eine freudige Überraschung).
Der Flohmarkt besteht im Prinzip aus zwei riesigen Parkplätzen, auf denen jedes Wochenende alle möglichen Verkäufer die Herrschaft übernehmen. Er ist total überfüllt und riecht nach einer Mischung aus heißen Würstchen und Schweiß. Und zwar keineswegs dem angenehmen Erdnussbutter-Schweiß. Obwohl das hier früher ein Zuhause außerhalb meines Zuhauses für mich war, halte ich mich dicht bei Lizzy.
Es dauert eine Weile, bis wir uns an dem Bereich mit den Künstlern, die ihre Werke verkaufen, vorbeigeschoben
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