Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
haben. Ich finde es total seltsam, ohne einen meiner Eltern oder Tante Judi hier zu sein. Mom und Tante Judi sind Gelegenheits-Flohmarktkäufer. Nicht so Dad. Er steuerte jedes Mal zielstrebig auf den Second-Hand-Kram zu, den man auch gern als Trödel bezeichnet. In der Trödelzone fühle ich mich zu Hause, denn das meiste, was bei uns in der Wohnung steht, stammt ja von diesem Pflaster. Eines von Dads Lieblingssprichwörtern war: »Was dem einen sin Uhl, ist dem anderen sin Nachtigall«, was man ungefähr so übersetzen könnte: Was dem einen als alter Trödel erscheint, ist für den andern ein Schatz. Wenn er das verkündete, flüsterte Lizzy mir immer zu: »Was dem einen sin Uhl, ist dem anderen sin Uhl «, aber sie sagte es nie so laut, dass Dad es gehört hätte. Sobald Dad etwas gefunden hatte, das er für einen Schatz hielt, führte er an Ort und Stelle auf dem Straßenpflaster ein Tänzchen auf. Die Leute lachten und mir war es peinlich. Heute sehe ich niemanden tanzen.
Wir gehen an Verkäufern vorbei, die gebrauchte Kleidung, Kinderspielzeug, alte Zeitschriften und seltene Comics in Schutzhüllen anbieten. Meine Beine werden von alleine langsamer, als wir die Comics passieren, und Lizzy muss mich weiterschieben. Ich sehe niemanden mit Briefmarken, aber es gibt einen Tisch mit alten Postkarten, die meine Mutter begeistern würden. Wir finden keine Karte mit einem Hund im Ballettröckchen drauf, deshalb nehmen wir eine mit einer Dame, die im Museum sitzt und intensiv ein Bild betrachtet, nur dass es kein Bild ist, sondern ein Spiegel. Die Karte ist schräg genug, um Mom zu gefallen, und wird hoffentlich Nachsicht für
meine jüngst begangenen Verfehlungen erwirken. Außerdem kostet sie nur zehn Cent.
Während die Verkäuferin mir die Karte in eine kleine Tüte steckt, drehe ich mich zu Lizzy um und sage: »Wusstest du, dass du, wenn du in den Spiegel schaust, in Wirklichkeit eine um einen Hauch jüngere Ausgabe deiner selbst siehst?«
»Ist das so?«, murmelt sie, und ihre Augen huschen zum nächsten Tisch, auf dem sich billiges, teilweise gebraucht aussehendes Make-up stapelt.
»Ja. Es hängt mit der Zeit zusammen, die das Licht braucht, um sich vom Spiegel zu der Person, die davorsteht, zu bewegen.«
»Uh, huh«, sagt sie.
Ich mache mir nicht die Mühe, meine Erläuterung zur Lichtgeschwindigkeit fortzusetzen, und frage sie, ob sie am Make-up-Tisch einen Halt einlegen will. Sie tut so, als wäre sie entsetzt, dass ich überhaupt auf eine solche Idee komme, und räuspert sich vernehmlich. Lizzy legt großen Wert auf ihren Ruf, ein halber Junge zu sein.
Wir wühlen uns auf- und abwärts durch die Reihen und suchen die angebotene Ware nach Schlüsseln ab. Auf halbem Weg entdecken wir in der dritten Reihe eine Frau, die ihren Kram auf Decken auf dem Boden ausgebreitet hat. Zusätzlich hat sie einen Tisch mit einem Korb voller loser Schmuck-Einzelteile und einer Schüssel voller Messing-Türknäufe. Mich überkommt das Gefühl, dass wir uns langsam unserem Ziel nähern. Um den Tisch drängen sich viele Leute, und wir müssen warten, bis eine ziemlich umfangreiche Frau mit Feilschen fertig ist, bevor wir den Rest zu Gesicht bekommen. Die Feilschende versucht, die ähnlich umfangreiche Frau auf der anderen
Tischseite dazu zu bringen, dass sie einen Dollar als Bezahlung für einen ganzen Korb, den sie vor sich hat, akzeptiert. Sie hält den Korb hoch und wir hören seinen Inhalt klappern und rasseln, aber wir können nicht sagen, was es ist. Und wenn wir nun eine Sekunde zu spät gekommen sind und diese Frau geht mit meinen Schlüsseln nach Hause?
Lizzy stellt sich auf die Zehenspitzen und versucht, der Frau über die Schulter zu spähen, fällt aber stattdessen um ein Haar auf sie. Da Geduld noch nie Lizzys starke Seite war, reicht es ihr schließlich, und sie drängt sich nach vorn.
»Ach so«, höre ich sie sagen. »Das sind ja bloß lauter kaputte Knöpfe. Wozu braucht jemand einen Korb voller kaputter Knöpfe?«
Die besagte Käuferin wendet sich um und funkelt sie zornig an, klatscht dann der Verkäuferin einen Ein-Dollar-Schein auf die Hand und stürmt davon.
»Pfft«, sagt Lizzy, als wir an den Tisch treten. »Manche Leute sind aber auch empfindlich.«
»Mach dir keine Sorgen deswegen«, sagt die Verkäuferin und schiebt die Dollarnote in einen kleinen Leinenbeutel, den sie um die Hüfte trägt. »Sie kommt jede Woche her und ist nie bereit, mehr als einen Dollar für irgendetwas zu
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