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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Mass
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aus und drängelt sich durch die Tür. Ich folge ihr schnell und schließe die Tür hinter uns. Im Büro gibt es keinen Strom, aber durch die Fenster dringt genügend Licht, dass wir uns mühelos umschauen können. Es ist wie ein Geisterbüro. Schreibtisch- und Aktenschrankgerippe, fleckiger Teppichboden, leere Pappkartons, eine kaputte Lampe.
    »Komm, lass uns anfangen«, flüstert Lizzy. »Du guckst in Harolds Büro und ich suche hier draußen im Wartebereich.«
    Ich nicke und begebe mich in das Büro, an dem Harolds Namensschild klebt. Als Erstes untersuche ich den alten Holzschreibtisch, der in der Mitte des Raums steht. Es ist ein schöner Tisch. Ich frage mich, weshalb er ihn stehen lassen hat. Die Schubladen sind allesamt herausgezogen, das macht es mir leicht. Ich taste sie von innen ab und überprüfe auch die Unterseite jeder Schublade, für den Fall dass die Schlüssel dort angeklebt sind. Meine einzige Ausbeute sind ein paar Splitter, drei Büroklammern und die Visitenkarte einer Umzugsfirma. Im benachbarten Raum höre ich Lizzy ebenfalls Schubladen auf- und zumachen.
    Ganz nach Plan krieche ich auf dem Teppichboden umher und taste dabei nach Unebenheiten. Als ich den Raum halb
umrundet habe, fühle ich tatsächlich etwas. Es ist ungefähr dreißig Zentimeter von der einen Wand entfernt und hat genau die richtige Größe für einen Schlüsselbund mit vier Schlüsseln und einem Schlüsselanhänger.
    »He, Lizzy«, rufe ich, so laut ich mich traue. »Vielleicht hab ich was gefunden!«
    Sie kommt gerannt und ich deute auf die Ausbuchtung. Sie rennt wieder weg. Als sie zurückkehrt, trägt sie ihren Aktenkoffer und meinen Rucksack, die wir an der Eingangstür stehen lassen hatten. Sie klappt den Aktenkoffer auf, nimmt den Schraubenzieher heraus und drückt ihn mir in die Hand, was ich als freundliche Geste betrachte, denn garantiert wäre sie ebenso wie ich in der Lage, den Teppichboden aufzuschneiden. Normalerweise hätte ich ja ein schlechtes Gewissen bei dem, was wir vorhaben, aber der Teppichboden ist so alt und fleckig und verschlissen, dass die neuen Mieter ihn fraglos austauschen werden. In gewisser Weise helfen wir ihnen bei der Arbeit.
    Mit der scharfen Kante setze ich den Schraubenzieher am Teppichrand an, dort, wo der Teppich an die Wand stößt, und hebele ihn hoch. Dann bewege ich den Schraubenzieher hin und her wie eine Säge. Doch auch wenn der Teppichboden alt ist, das Gewebe ist stabil. Lizzy biegt die beiden Enden auseinander, während ich weiterarbeite und den Betonboden darunter freilege. Als ich den Schlitz schließlich bis zu der Ausbuchtung gezogen habe, schwitze ich. Ein letzter Schnitt und der Teppich enthüllt seinen verborgenen Schatz.
    Lizzy kreischt und macht einen so schnellen Satz nach hinten, dass sie, mit Armen und Beinen rudernd, auf den Boden kracht. Sie hält sich den Mund zu, um einen weiteren Schrei
zu unterdrücken, und schafft es schließlich, wieder auf die Füße zu kommen.
    »Du bist vielleicht ein Schisser«, sage ich zu ihr und lasse den Teppichboden wieder an seinen Platz fallen. »Die ist doch schon lange tot.« Statt der Schlüssel zu meiner Kassette haben wir die letzte Ruhestätte einer kleinen braunen Maus freigelegt.
    Lizzy schüttelt sich. »Lass uns fertig werden mit der Sucherei. Dieses Büro ist mir unheimlich.«
    Die einzige Stelle, an der ich noch nicht geschaut habe, ist die Zimmerdecke. Es ist so eine abgehängte Decke, bei der man gegen die einzelnen Platten drücken und sie anheben kann. »Taschenlampe«, sage ich und strecke meine Hand aus. Wie eine Krankenschwester, die dem Arzt das Skalpell reicht, wiederholt Lizzy: »Taschenlampe«, und legt sie mir in die Hand. Ich stelle mich auf den Schreibtisch und kann mühelos bis zur Decke reichen. Nachdem ich eine der Platten nach oben gedrückt habe, kann ich sie beiseiteschieben und meine Taschenlampe durch das Loch stecken. Bevor ich meinen Kopf ebenfalls hineinstecke, muss ich Spinnweben aus dem Weg räumen. Ein Glück, dass ich das erledige und nicht Lizzy. Für ein taffes Mädchen lässt sie sich von vielbeinigen Wesen ganz schön aus der Fassung bringen.
    »Siehst du irgendwas?«, fragt sie. Hier oben klingt ihre Stimme gedämpft.
    »Leitungsrohre, Staub und Kabel«, rufe ich nach unten. Ich lasse den Lichtstrahl langsam herumwandern, sehe aber überall nur Ähnliches. »Willst du mal schauen?«
    Sie antwortet nicht. Ich wiederhole meine Frage. Sie antwortet noch immer nicht. Ich ziehe meinen

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