Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
ist, dass es in der String-Theorie eigentlich nicht um Saiten geht, sondern um ziemlich winzige Schwingungen von Energiewellen. Die dürften schwerer zu finden sein als normale Saiten.
Wir stehen auf und halten uns an den Stangen neben der hinteren Tür fest. Der Bus wird langsamer, als er die Straßenecke erreicht … doch dann fährt er einfach an der Haltestelle vorbei! Anfangs dämmert mir das nur von ferne, als aber die hintere Bushälfte die Haltestelle vollständig passiert hat, begreife ich, dass der Fahrer den Straßenrand überhaupt nicht ansteuern wird.
»Warten Sie!«, schreit Lizzy. »Sie sind grade an unserer Haltestelle vorbeigefahren!«
Der Fahrer bremst nicht. Eine weißhaarige Frau mit silbernem Stock beugt sich vor und sagt zu Lizzy: »Junges Fräulein, wenn der Fahrer niemanden an der Haltestelle warten sieht, hält er nicht an. Wenn du das willst, musst du auf diesen gelben Streifen hier oben drücken. Siehst du?« Wir folgen ihrer Hand mit den Augen, sie deutet zittrig auf einen breiten Streifen, der wie gelbes Klebeband aussieht. Ich erinnere mich, dass ich vorher Leute darauf habe drücken sehen, aber ich hatte nicht groß darauf geachtet.
»Ach so«, murmelt Lizzy. »Danke.«
»Kann ich immer noch drücken?«, frage ich die Frau.
Sie nickt fröhlich. Ich reiche ohne Mühe nach oben und drücke fest auf den Streifen. Eine Glocke bimmelt einmal. Wahrscheinlich müssen kleinere Leute endlose Runden
durch die Stadt drehen, bis jemand Größeres ihnen zu Hilfe kommt.
»Jetzt hält der Fahrer an der nächsten Station an. Seht ihr?«, sagt die Frau. »Ihr seid dann nur zwei Häuserblocks von der Stelle entfernt, an der ihr aussteigen wolltet.« Sie lehnt sich wieder in ihrem Sitz zurück.
Wer behauptet eigentlich, dass die New Yorker nicht hilfsbereit sind? Zwei Blocks weiter heißt natürlich auch, dass wir es um genau so viel länger mit Knobiman aushalten müssen. Ich frage mich, ob irgendjemand mal durch einen Geruchsanschlag gestorben ist.
Es stellt sich heraus, dass an der nächsten Haltestelle eine Menge Leute warten, der Fahrer hätte also sowieso angehalten. Der Bus fährt rechts ran, und die vordere Tür geht auf, nicht dagegen die hintere. Lizzy zerrt am Türgriff, aber nichts bewegt sich. Knobiman streckt die Hand aus und drückt auf einen Metallstreifen neben der Tür, woraufhin die Tür aufschwingt. Ich nehme meine bösen Gedanken über ihn zurück. Offenbar ist auch er ein sozial engagierter Bürger.
Wir sprinten die drei Stufen hinunter, bevor der Fahrer seine Meinung ändern kann und wieder losfährt. Mein linker Fuß bleibt dabei auf jeder Stufe kleben, ich muss irgendwo unterwegs Kaugummi aufgelesen haben. Als wir aus dem Gedränge heraus sind, bitte ich Lizzy zu warten und benutze den Bordstein, um den Kaugummi von meiner Schuhsohle abzukratzen.
»Heiliger Strohsack!«, sagt sie und umklammert meinen Arm. (Als sie sechs wurde, brachte ihr Vater ihr bei, Kraftausdrücke wie Heiliger Strohsack! und Donnerlittchen! zu verwenden, anstelle der anschaulicheren, die sie seit ihrem ersten Tag im Kindergarten mitgebracht hatte.)
Ich verliere um ein Haar das Gleichgewicht, weil ich einen Fuß in der Luft habe und mir zur selben Zeit mehr oder minder ein Arm ausgerenkt wird. Ich folge Lizzys Blick. Im Rinnstein, etwa einen halben Meter von uns entfernt, liegt eine Spielkarte. Mit der Bildseite oben, der untere Teil ist zur Hälfte von der Speisekarte eines chinesischen Schnellrestaurants verdeckt. Die Herzacht, eine der drei letzten Karten, die Lizzy noch in ihrer Sammlung fehlen. Es ist mindestens ein halbes Jahr her, seit sie eine Karte gefunden hat. Ich hatte schon langsam damit gerechnet, dass die letzten drei nie mehr auftauchen würden.
Lizzy lockert ihren Griff um meinen Arm und bückt sich zu der Karte hinunter. Mit zittrigen Fingern fasst sie sie an einer Ecke. Sie nimmt sie aber noch nicht an sich, und ich weiß, dass sie eines ihrer kleinen Gebete aufsagt in der Hoffnung, dass die Karte heil ist. Allzu oft findet sie zerrissene Karten und die nimmt sie nicht in ihre Sammlung auf.
Schließlich zieht sie sanft an der Karte und sie gleitet ihr entgegen – vollständig intakt. Lizzy stößt einen Seufzer der Erleichterung aus und reckt die Karte dann hoch über ihren Kopf, als wäre sie der siegreiche Boxer in einem Wettkampf. »Tata!«, verkündet sie. »Nur noch zwei!«
Sie klappt ihren Aktenkoffer auf und steckt die Karte vorsichtig in eines der Fächer im Deckel.
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