Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Dann geht sie ein paar Schritte auf das Bürogebäude zu, bleibt aber wieder stehen, als ich mich nicht von der Stelle rühre. »Was ist los?«, will sie wissen. »Freust du dich nicht mit, dass ich meine Karte gefunden habe?«
Ich nicke, höre aber nicht wirklich zu. Hätten wir nicht unsere Haltestelle verpasst, wären wir nicht von unserem ursprünglichen
Plan abgewichen, dann wären wir nicht hier ausgestiegen und Lizzy hätte ihre Karte nicht gefunden. Aber ist es das Schicksal, das uns an diesen Ort gebracht hat, oder einfach nur ein glücklicher Zufall? Und was ist mit dem Schicksal und unglücklichen Zufällen?
Wäre Dad an jenem Tag eine andere Strecke gefahren oder hätte er an der roten Ampel eine Sekunde länger gewartet, dann wäre er nicht gestorben. Und was wäre gewesen, wenn die Frau, der er auswich, um sie nicht zu überfahren, eine Sekunde länger gewartet hätte, bevor sie die Straße überquerte? Oder wenn sie ihr Paket von unten anstatt an dem Griff gehalten hätte, der auf halber Strecke auf der Kreuzung abriss und sie zum Stehenbleiben veranlasste?
Was wäre gewesen, wenn es an jenem Morgen nicht geregnet hätte und die Straße nicht so rutschig gewesen wäre, dass Dads Autoreifen die Haftung auf dem Asphalt verloren? Oder wenn ich an jenem Tag nicht krank gewesen wäre, sondern mit ihm hätte fahren können? Vielleicht hätten wir noch für ein Eis angehalten und dann …
»Alles in Ordnung?«, fragt Lizzy. Sie schaut mir forschend ins Gesicht und unterbricht so meine Gedankengänge. Ich werde wohl nie herausfinden, was hätte passieren können, wenn nur eine dieser Alternativen eingetreten wäre. Es sei denn, es gelänge mir tatsächlich, eine Zeitmaschine zu bauen. Und das scheint nicht allzu aussichtsreich zu sein.
Ich hole tief Luft. Einmal und ein zweites Mal. »Mir geht’s gut«, antworte ich. »Lass uns gehen.«
»Dass ich diese Karte gefunden habe, ist ein gutes Vorzeichen«, sagt Lizzy, während wir weitergehen. »Ganz bestimmt!«
Hoffentlich hat sie recht. Jetzt, wo wir schon ganz in der Nähe sind, werde ich allmählich nervös. Wenige Häuserblöcke weiter bleibt Lizzy vor einem hohen Gebäude stehen. Sie studiert den Briefkopf des Briefs, den Harold an meine Mom geschrieben hat, und sagt: »Hier ist es. Die früheren Büroräume von Harold Folgard, Esquire.«
Ich muss meinen Kopf ganz weit in den Nacken legen, um an dem Gebäude bis nach oben schauen zu können. Keiner von uns macht Anstalten, hineinzugehen. »Es ist so … hoch«, sage ich und beschirme meine Augen mit der Hand.
»Ein Glück, dass du nicht an der Fassade hochklettern und mit einem Glasschneider in die Büroräume einbrechen musst«, sagt Lizzy und führt mich zu der Drehtür. »Das war mein Ersatzplan.«
Die Eingangshalle besteht aus Marmor und Glas, sie hat hohe Decken und in zwei Reihen angeordnete Fahrstühle. Und es ist still wie in einer Bibliothek. »Das Büro ist im vierzehnten Stock«, sagt Lizzy. Ihre Stimme hallt wider. Es sind nur wenige Leute in der Eingangshalle, keiner von ihnen schenkt uns die geringste Beachtung.
Ich trete näher an die Wand, um die Schilder zu lesen. »Hier ist es«, sage ich leise und zeige auf die Fahrstühle rechts von uns. »Erste bis sechzehnte Etage.«
»Guck, als gehörtest du hierher«, flüstert sie zurück und wirft ihre Haare nach hinten über die Schultern. Sie schlenkert ein bisschen mit ihrem Aktenkoffer und geht auf den ersten Aufzug zu.
Ich richte mich kerzengerade auf und recke mein Kinn leicht vor. Nach meiner Überzeugung könnte ich angesichts meiner Größe von hinten ohne weiteres als Geschäftsmann
durchgehen – ein rappeldürrer, Rucksack tragender Geschäftsmann.
Lizzy ist im Begriff, den Knopf für die Fahrtrichtung nach oben zu drücken, als eine Stimme quer durch die Eingangshalle schallt: »Wo wollt denn ihr hin?«
Wir erstarren. Mein Herz beginnt zu rasen. Ein Mann taucht hinter uns auf und wir drehen uns langsam um. Er trägt die schwarze Uniform eines Sicherheitsbediensteten. Wir haben schon vereinbart, dass Lizzy das Reden übernimmt, falls wir aufgehalten werden. Ehrlich gestanden würde ich wahrscheinlich sowieso nichts herausbringen. Ich hoffe nur, sie versucht es nicht mit ihren weiblichen Waffen.
Zu ihrer Ehre muss ich sagen, dass Lizzy sich nicht aus der Fassung bringen lässt. Sie schaut dem Wachmann in die Augen und sagt ruhig: »Unser Onkel arbeitet im vierzehnten Stock. Wir wollten ihn überraschen.«
Er antwortet
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