Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
dem Herzen haben.«
»Als ob Sie das nicht wüssten«, faucht Lizzy und stürmt ins Haus. Ich lächle Mr Oswald verlegen zu, während ich hineingehe. Ich warte ebenso dringend auf Antworten wie Lizzy, aber man kann schließlich trotzdem höflich bleiben.
Als wir durch den mit Kartons angefüllten Wohnraum gehen, atme ich tief ein. Da hat jemand Kuchen gebacken!
Mary erwartet uns in der Bibliothek mit Orangensaft und Schokoladenstreuselkuchen. Falls Mr Oswald uns zu bestechen
versucht, hat er mich schon auf seiner Seite. Ich futtere fröhlich los, während Lizzy ungeduldig darauf wartet, dass Mr Oswald hinter seinem Schreibtisch Platz nimmt.
»Ich gehe davon aus, dass gestern alles glatt verlaufen ist?«, sagt Mr Oswald.
»Wir hätten da noch ein paar Fragen, zum Beispiel …«, setze ich an, aber Lizzy schneidet mir das Wort ab.
»Warum haben Sie uns nicht gesagt, dass Mrs Billingsly nicht wusste, weshalb wir kommen?«, will sie wissen. »Warum haben Sie uns gesagt, in Ihrem Buch ginge es um Waldtiere? Warum hat Ihr Großvater das Buch über sechzig Jahre bei sich behalten? Mein Vater hat gesagt, Jugendliche unter achtzehn dürfen gar keine Sachen verpfänden. Das ist illegal.« Bei dem Wort illegal senkt sie die Stimme ein bisschen.
Bevor Mr Oswald Lizzy antwortet, wendet er sich an mich und fragt: »Was ist mit Ihnen, Jeremy? Haben Sie dieser Liste etwas hinzuzufügen?«
Ich bin versucht zu fragen, wie jemand auf die Idee kommen kann, sein Kind Oswald Oswald zu nennen, aber Ozzy war nun mal sein Großvater, deshalb wäre das nicht sehr respektvoll. Ich schüttle den Kopf.
»Wird jetzt jeder Auftrag wie dieser?«, erkundigt sich Lizzy.
Mr Oswald verneint. »Nicht genau wie dieser«, sagt er. »Es gleicht niemals ein Ding genau dem anderen. Ich entschuldige mich, dass ich gestern nicht genügend Zeit hatte, Sie umfassend vorzubereiten, und hoffe, Sie werden mir verzeihen und eine Erklärung gestatten. Jeremy?«
»Ja, in Ordnung«, sage ich, überrascht und irgendwie geschmeichelt, dass er mich um Verzeihung bittet.
»Lizzy?«, fragt Mr Oswald.
Lizzy seufzt vernehmlich. »Von mir aus.«
»Gut!«, ruft Mr Oswald aus und stemmt sich aus seinem Ledersessel hoch. »Ich werde Ihnen die Sache erklären, indem ich Ihnen etwas anderes zeige.« Er geht zu den am nächsten gelegenen Regalreihen und greift nach dem einzigen Gegenstand auf dem obersten Brett – einem Messingfernrohr. Selbst auf Zehenspitzen reicht er nicht ganz heran. Plötzlich habe ich das schreckliche Bild vor Augen, dass er stürzt und sich die Hüfte bricht und wir müssen im Central Park Müll aufsammeln. Ich springe auf und biete ihm meine Hilfe an.
Ich steige auf das unterste Regalbrett und recke mich nach dem Fernrohr. Es ist schwerer, als ich dachte, und mein Fuß verliert den Halt auf dem Brett. Lizzy schreit auf, als ich nach hinten kippe. Mr Oswald bewegt sich schneller, als ich jemals für möglich gehalten hätte, und fängt mich auf.
»Ein Glück, dass Sie nicht viel schwerer sind«, sagt er und hält mich an den Schultern fest.
»Tut mir echt leid«, sage ich errötend. Behutsam übergebe ich ihm das Fernrohr. Da mache ich mir Gedanken, er könnte stürzen, und stattdessen falle ich fast auf ihn!
»Alles in Ordnung?«, flüstert Lizzy.
Ich nicke verlegen. Vielleicht sollte ich mit Krafttraining anfangen.
Mr Oswald legt das Fernrohr vor uns auf den Schreibtisch. »Das«, sagt er stolz, »ist ein Broadhurst. Es war seinerzeit das beste Fernrohr zur privaten Himmelsbeobachtung.«
»Und wann war das?«, fragt Lizzy.
»In den Dreißigerjahren«, antwortet er. »Ist es nicht ein Prachtstück? In einer klaren Nacht konnte man damit das gesamte Sonnensystem sehen.«
Unfähig, mich zurückzuhalten, platze ich heraus: »Mein Vater erklärt mir jeden Samstag unsere neun Planeten.«
Lizzy glotzt mich an, als hätte ich zwei Köpfe. »Er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank; er hat endgültig nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ich wusste, dass es eines Tages so weit kommt.«
Mr Oswald lacht leise. »Jeremy hat uns lediglich einen Merksatz geliefert, mit dem man sich die Reihenfolge der Planeten einprägen kann.«
Lizzy rollt mit den Augen. »Sehen Sie?«, sagt sie. »Ich hab Ihnen doch gesagt, er liest zu viel.«
»Ich glaube, man kann gar nicht zu viel lesen«, sagt Mr Oswald. »Jeremy, eigentlich muss Ihr Merksatz abgeändert werden. Ich habe kürzlich gelesen, dass Pluto seinen Status als Planet verloren hat. Nach Ansicht der
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