Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
geklebt. Es ist in erstaunlich gutem Zustand, wenn man bedenkt, wie alt es ist. Ein Mädchen in einem getupften Kleid und mit Pferdeschwanz hält ein Buch vor sich hoch. Auf dem Umschlag ist ein Bild von einem Bären, der den Kopf in einen Honigtopf steckt.
Ich versuche, Mabel in dem Gesicht des Mädchens zu erkennen, aber es gelingt mir nicht. Dann entdecke ich, dass sie genau die Halskette mit den beiden Herzen um den Hals trägt. Ich hatte gedacht, ihr Mann hätte sie ihr geschenkt, aber sie muss den Schmuck schon gehabt haben, bevor sie ihn kennengelernt hat. Die Augen der jungen Mabel schauen leicht seitlich an der Kamera vorbei, ihr Gesichtsausdruck ist entschlossen.
Unter dem Foto steht geschrieben:
Preis: $ 20 (zwanzig Dollar)
Unterzeichnet: Oswald Oswald, Inhaber
Oswald Oswald? Wer bitte nennt sein Kind Oswald Oswald? Das ist komplett verrückt. Wie es aussieht, hat also mein Mr Oswald das Buch von seinem Großvater geerbt. Aber warum lässt er es uns jetzt zurückgeben? Warum hat der alte Ozzy es nicht verkauft? Besteht denn nicht genau darin die Arbeit eines Pfandleihers?
Mom klopft an meine Tür. »Noch fünf Minuten«, sagt sie, betritt das Zimmer aber nicht. Ich schaue den Brief noch mal gründlich an, dann rolle ich ihn vorsichtig zusammen und stecke ihn für Lizzy ins Loch. Ich kann nicht erklären, weshalb ich meiner Mutter keine Einzelheiten der heutigen Geschehnisse erzählen will. Irgendwie käme ich mir gegenüber Mrs Billingsly treulos vor – und gegenüber der fünfzehnjährigen Mabel. Ich ziehe mein Wörterbuch aus dem Regal und schlage das Wort Kotillon nach. Es bezeichnet einen Gesellschaftstanz, mit dem häufig auf Bällen junge Mädchen in die Gesellschaft eingeführt wurden. Ich muss insgeheim grinsen bei der Vorstellung, dass Lizzy in die Gesellschaft eingeführt wird.
Beim Abendessen bin ich nicht sonderlich gesprächig. Mom und Tante Judi diskutieren über eine Ausstellung mit Außenseiterkunst, die meine Tante nächste Woche in ihrer Kunstakademie arrangiert.
Mom sagt: »Ich dachte, der Grundgedanke dieser Kunst bestünde darin, dass die Künstler kein Interesse an Galerien, Akademien, Museen und Ähnlichem haben.«
Tante Judi schaufelt sich Curryhuhn und Reis auf den Teller
und sagt: »Es trifft zu, dass sich diese Künstler sozusagen am Rande der Gesellschaft bewegen, aber ohne Ausstellung haben sie keine Stimme.«
»Vielleicht wollen sie ja keine Stimme haben«, wendet Mom ein. »Vielleicht arbeiten sie einzig zu ihrem eigenen Vergnügen.«
An diesem Punkt schalte ich offiziell ab. Das ist ein gängiger Streit zwischen den beiden: Mom meint, Kunst sei eine persönliche Angelegenheit, und Tante Judi ist fest überzeugt, dass Kunst keine Kunst ist, solange sie nicht in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Ich habe keine Meinung dazu. Ich kann mit Kunst nichts anfangen. Mom sagt, das wird noch kommen, wenn ich älter bin.
Der Currygeruch hat sich so in der Wohnung festgesetzt, dass mein Doppeldecker-Erdnussbuttersandwich im Abendessensformat ein bisschen komisch schmeckt. Nicht direkt schlecht. Nur anders. Ich finde, das ist ein positiver Schritt für mich.
Als an diesem Abend die S.v.J. kommt, hole ich das Notizheft heraus, das uns Wachtmeister Polansky mitgegeben hat. Ich schlage die erste Seite auf und fühle mich wie am ersten Schultag. Ich gebe zu, ich liebe leere Hefte. Sie sind das Beste an der Schule. Am zweiten Tag habe ich das dann hinter mir.
Ein geübter Zusammenfasser wie ich sollte mit dieser Aufgabe kein Problem haben. Trotzdem ertappe ich mich dabei, wie ich auf der Spitze meines Stifts herumkaue. Der Geschmack nach Metall und Sägemehl ist nicht nur unangenehm.
Ich beuge mich über mein Heft und beginne zu schreiben.
SOZIALSTUNDEN, ERSTER TAG: BEOBACHTUNGEN
1. Ich könnte mich daran gewöhnen, in einer Limousine zu fahren. Die meisten Leute denken, Luxusautos wären nur etwas für Filmstars und Politiker und Sportler, aber sie irren sich.
2. Lizzy ist nicht immer bereit zu teilen. Einschlägiges Beispiel: Starburst.
3. Mr Oswald hat uns nicht wirklich belogen, was unsere Aufgabe anging, aber er hat auch nicht wirklich nicht gelogen. Mir ist nicht klar, warum.
Wieder kaue ich auf meinem Stift, und mein Blick fällt auf die vielen Bücher, die sich in meinem Regal stapeln. Seit die Kassette hier ist, hatte ich keine Zeit mehr zum Lesen. Damit muss ich einen persönlichen Rekord aufgestellt haben. Plötzlich fällt mir ein, dass ich in Mrs
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