Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Astronomen ist er zu klein, als dass die Definition ›Planet‹ auf ihn zutreffen würde.«
Ich nicke. Das hatte ich auch schon gelesen.
»Typisch. Natürlich schaffen sie den ab, der nach dem Hund von Mickymaus benannt ist«, motzt Lizzy.
Ich beuge mich über den Tisch und nehme das Fernrohr genau in Augenschein. Es ist erkennbar sehr alt, denn es ist aus einem schweren Metall wie Messing oder Kupfer gefertigt anstatt aus Kunststoff. Seit ich acht bin, habe ich mir ein Fernrohr zum Geburtstag gewünscht – und nicht bekommen. Mom wendet ein, es sei unnütz, weil in der Stadt so viele Lichter sind, dass wir die Sterne kaum sehen können. Ein Mitschüler hat damit geprahlt, dass seine Familie eines besitzt, aber anstatt damit in den Himmel zu schauen, haben sie es auf das Mietshaus gegenüber gerichtet. Nachdem ich das erfahren
hatte, beschloss ich, meine Jalousien unten zu lassen, falls wir auch irgendwelche neugierigen Nachbarn haben.
Ich strecke die Hand aus und fahre mit dem Finger am Fernrohr entlang. Wer hat durch dieses Objektiv geschaut? Was hat er gesehen?
»Woher haben Sie das?«, frage ich ehrfürchtig.
»1944 ist ein junger Mann namens Amos Grady von Kentucky nach Brooklyn gezogen. Er hat dieses Gerät ins Geschäft meines Großvaters gebracht. Großvater hat Amos fünfundvierzig Dollar dafür bezahlt. Das war zu jener Zeit eine Menge Geld. Er hätte es als Altmetall an die Regierung abliefern sollen, aber aus bestimmten Gründen hat er’s nicht getan.«
»Lassen Sie mich raten«, sagt Lizzy. »Heute sollen wir Amos Grady dieses alte Fernrohr zurückbringen, stimmt’s?«
»Nein«, antwortet Mr Oswald. Er tritt wieder vor die Regale und nimmt eine verschnörkelte Lampe aus buntem Glas und mit ausgefranster brauner Schnur in die Hand. »Heute werden Sie diese Lampe bei einem gewissen Mr Simon Rudolph in der Avenue B abgeben.«
Er drückt der erstaunten Lizzy die Lampe in die Hand. Sie schaut sie sich an. »Funktioniert dieses Ding denn überhaupt?«
Mr Oswald lacht erneut leise. »Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, das auszuprobieren …«
»War Amos Grady unter achtzehn?«, unterbricht ihn Lizzy.
»Auf den Tag genau vierzehn«, erwidert Mr Oswald.
»Dann war das, was Ihr Großvater gemacht hat, also gegen das Gesetz?«, will sie wissen.
Ich rutsche tiefer in meinen Sessel und weiß nicht genau, wohin ich schauen soll.
Mr Oswald nickt. »Ja, ganz recht.«
»Ich wusste es!«, ruft Lizzy aus. »Ich wusste, dass hier irgendwas faul ist. Hab ich’s dir nicht gesagt, Jeremy?«
Ich rutsche noch tiefer auf meinem Sitz. Meine Augen befinden sich jetzt auf Höhe der Tischplatte.
Mr Oswald kehrt zu seinem Schreibtischsessel zurück. Er hebt die Hand. »Bevor Sie falsche Vorstellungen bekommen, lassen Sie mich ein paar Dinge erklären, wie ich zuvor versprochen habe.«
Lizzy stellt die Lampe neben dem Fernrohr auf den Schreibtisch und lehnt sich mit verschränkten Armen in ihrem Sessel zurück. Als ich mir sicher bin, dass sie nicht mehr herumschreien wird, rutsche ich wieder nach oben.
Mr Oswald räuspert sich. »In New York kannte jeder meinen Großvater, den alten Ozzy, wie er genannt wurde, schon bevor er eigentlich alt war. Priester und Rabbiner und führende Geschäftsleute wandten sich an ihn und suchten seinen klugen Rat. Auf der Straße liefen ihm die kleinen Kinder nach. Er hatte immer ein Toffee oder eine Essiggurke für sie dabei.«
»Eine Essiggurke?«, werfe ich ein, ich kann’s mir nicht verkneifen. »Kinder sind ihm wegen einer Essiggurke nachgelaufen?«
Mr Oswald lächelt. »Ganze Straßenzüge weit. Diese Essiggurken wurden in großen Holzfässern unten am Hafen eingelagert, so lange, bis sie den perfekten Geschmack hatten. Unvergleichlich, damals wie heute.«
Ich muss mich unwillkürlich schütteln.
Mr Oswald spricht weiter. »Aber wichtiger noch als die Essiggurken: Die Kinder wussten, dass sie mit ihren Sorgen zu meinem Großvater kommen konnten. Und zu jener Zeit – in
den Dreißiger- und Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts – konnte man eine Menge Sorgen haben. Wie nun Miss Muldoun eben ganz richtig hervorgehoben hat, wurde es, sagen wir, missbilligt, wenn jemand im Pfandleihhaus einen Gegenstand von einem Kind entgegennahm. Aber wie bereits erwähnt, es waren harte Zeiten damals und alle waren in Geldnöten, auch Kinder. Ozzy hat also Verträge geschlossen mit den Kindern, die zu ihm kamen.« An dieser Stelle macht er eine Pause und sagt: »Alles klar
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