Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
ich zu hören glaubte? Schlägt der ehrenwerte Jeremy Fink vor, dass wir den Umschlag aufmachen, bevor wir dort sind?«
»Möglicherweise«, sage ich mit stolzem Lächeln.
»Es besteht noch Hoffnung für dich«, sagt sie anerkennend.
Ich bin froh, dass sie sich über meine Bereitschaft, die Regeln zu brechen, freut – wobei Mr Oswald uns ja nicht ausdrücklich gesagt hat, wir sollten den Brief nicht lesen. Aber ehrlich gestanden treibt mich auch weniger Neugier als vielmehr Angst dazu. Ich mag es nun mal grundsätzlich nicht, wenn ich auf etwas nicht vorbereitet bin. Und wenn Mr Rudolph so »exzentrisch« ist, wie Mr Oswald gesagt hat, wüsste ich gern genauer, auf was wir uns da einlassen.
Kapitel 11: Die Lampe
»Du kannst ihn aufmachen«, flüstere ich und schiebe den Umschlag auf dem Sitz zu Lizzy rüber.
»Nein, du«, sagt sie und schiebt ihn zurück.
»Du!« Ich werfe ihr den Brief auf den Schoß und sie wirft ihn auf der Stelle zurück.
»Himmel noch mal«, sagt James auf dem Vordersitz. »Ich öffne ihn.«
Schuldbewusst reiche ich den Umschlag durch die einen Spaltbreit geöffnete Trennscheibe. Ich höre etwas zerreißen, zucke leicht zusammen und kurz darauf taucht der Brief auf. Er ist nicht vergilbt wie der andere. Langsam falte ich ihn auseinander.
Oswalds Pfandleihhaus
Datum: 11. August 1958
Name: Simon Rudolph
Alter: 14 (heute)
Wohnsitz: Manhattan
Leihobjekt: Buntglaslampe
Persönliche Angaben des Verkäufers: Ich brauche das Geld, um mir eine silberne Uhr zu kaufen. Alle meine Freunde haben schöne Uhren, nur meine Mutter ist so damit beschäftigt, bei Bergdorf und Bloomingdale Geld für sich selbst auszugeben, dass sie mir nichts kauft. Sie hat zwanzig solche Lampen. Sie wird es nicht merken, wenn eine fehlt. Sie merkt sowieso nie was. Einmal habe ich volle zwanzig Minuten Kopfstand gemacht, bis ich knallrot im Gesicht war. Mutter hat die ganze Zeit am Telefon mit ihrer Freundin darüber gequatscht, was sie zum Abendessen im Klub anziehen soll. JEDER weiß, dass man das Telefon nicht für solche banalen Sachen benutzen soll. Dad sagt, ich muss den Wert des Geldes kennenlernen, aber ich KENNE den Wert schon. Irgendwann mal werde ich noch reicher sein als er und dann brauche ich nichts mehr im Pfandleihhaus zu versetzen. Dann werde ich FÜNFZIG Silberuhren haben!
Als ich zu Ende gelesen habe, sagt Lizzy: »Wow. Was für ein verwöhnter Balg.«
Ich gebe ihr den Brief. »Hier steht, dass er zwanzig Dollar für die Lampe bekommen hat. Damals haben silberne Uhren offenbar viel weniger gekostet.«
»Er schaut so … angestrengt«, sagt Lizzy und betrachtet intensiv das Foto, das am Ende des Briefs festgeklammert ist. »Ich wüsste gern, was er in dem Moment gedacht hat.« Sie hält das Blatt Papier schräg, damit ich das Foto sehen kann.
»Vielleicht denkt er über den Sinn des Lebens nach«, schlage ich vor.
»Meinst du?«
»Warum denn nicht?«
Lizzy beugt sich vor und gibt den Brief durch die halb geöffnete Scheibe an James weiter. »Was denken Sie, James?«
Ohne die Augen von der Straße abzuwenden, hält James den Brief vor sich hoch und wirft einen raschen Blick drauf. »Ich glaube, er fragt sich, ob er die letzte Essiggurke wirklich hätte essen sollen.«
Lizzy und ich lachen. Dann wirft James den Brief wieder zu uns nach hinten und fährt für den Rest der Fahrt die Trennscheibe hoch.
Regen beginnt, auf das Autodach zu prasseln. Ich bin froh und zufrieden, dass ich in diesem Augenblick genau hier in diesem Auto sitze. Trotzdem aber ist der Gedanke, dass ich die Schlüssel für die Kassette finden will, immer gegenwärtig. Jede Sekunde, in der wir etwas anderes tun, macht mich leicht kribbelig. Lizzy gibt es auf, dem Regen beim Herunterlaufen an der Rückscheibe zuzuschauen, und öffnet sich eine Limo.
Ich räuspere mich. Es geht selten gut, wenn man Lizzy ernsthafte Fragen stellt, aber ich muss es zumindest versuchen. »Du, Lizzy?«
»Hmmm?«, fragt sie und kippt die Limo so schnell in sich hinein, dass ich befürchte, sie könnte ihr zur Nase wieder herauskommen. Zu Hause kriegt sie keine Limo.
»Denkst du … ich meine, hast du jemals … ich meine …«
Sie wirft einen theatralischen Blick auf ihre Armbanduhr. »Spuck’s aus, bevor ich alt und grau werde.«
»Na schön. Denkst du jemals über den Sinn des Lebens nach? Ich meine, denkst du, du weißt, was das ist?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich versuche, nie allzu gründlich über irgendwas nachzudenken. Davon
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