Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
ich dir sagen, Herr Anwalt, naiv ist die nicht. Wir brauchen jetzt nicht Krieg, wir brauchen Idee. Keiner weiß, ob ihr Verschwinden wirklich mit dem von Franziska Dasch zu tun hat.“
„Sie ist meine Tochter, ist euch das klar?“, brüllt Oskar. „Wenn meine Tochter tot ist …“ Er starrt mich an und geht dann mit großen Schritten davon. Ich renne hinterdrein. „Oskar!“ Er schüttelt mich ab. Vesna ist neben mir.
„Brauchen Sie Hilfe?“, fragt eine Frau in unserem Alter. Jetzt erst bemerke ich, wie viele Menschen neugierig zugesehen haben.
„Gehen Sie zum Teufel“, faucht Vesna.
Die Frau sieht sie entsetzt an. Da schaut man nicht bloß zu, sondern kümmert sich um Mitmenschen in Not, und dann so etwas.
„Danke“, sage ich matt und versuche ein Lächeln. „Wissen Sie, er hat recht.“
Sie schüttelt den Kopf über so viel Unterordnung und Leidensbereitschaft. Wenn sie wüsste, was wir getan haben. Was ich getan habe.
Vesna telefoniert. Mit wem telefoniert sie jetzt? Was kann so wichtig sein? Sie stopft das Mobiltelefon in die Jackentasche.
„Das war Slobo.“
Mein Herz macht einen fürchterlichen Sprung und ich wünschte, es würde zerspringen.
„Er glaubt, sie haben ihr Mobiltelefon gefunden. Nicht direkt bei der Anlage, aber in der Nähe. Er weiß nicht genau, ob es wirklich ihres ist, er konnte nicht so nah hin, aber so wie sie herumgetan haben … Er ist ziemlich sicher.“
Ich starre Vesna an. Ihr ist wohl klar, was das bedeutet.
„Wir müssen wissen, was auf diesem Handy drauf ist. Du musst Oskar hinterher. Vielleicht gibt es irgendetwas … Er ist ihr Vater“, sagt Vesna.
Ich denke gar nicht lange nach. Ich renne. Durch die Ankunftshalle, hinaus, zum Taxistand. Oskar ist gerade dabei, in ein schwarzes Taxi zu steigen. Er wirkt wie in Trance. Oder in Trauer? Ich renne, packe ihn an der Schulter, keuche: „Sie haben ihr Telefon gefunden. Wir müssen sofort zur Polizei. Wir müssen wissen, was da drauf …“
Oskar starrt mich an. „Damit du es ausschlachten kannst?“
Er braucht mich nicht abzuschütteln, ich weiche von alleine zurück, stehe einen Meter neben dem Wagen und sehe, wie die Tür zugeht, wie Oskar etwas zum Fahrer sagt, wie sie abfahren.
„Was war los?“, fragt Vesna, und dann umarmt sie mich, ohne weiterzureden.
„Wir haben nur eine Chance, wir müssen herausfinden, was passiert ist“, sagt Vesna, als wir in ihrem Auto längst die Stadtgrenze passiert haben. Ich bin nicht fähig zu denken, ich nicke bloß.
„Wir fahren zu deiner Wohnung. Mit Glück ist Polizei noch nicht dort. Vielleicht finden wir Hinweis.“
„Wir dürfen Zuckerbrots Arbeit nicht behindern“, sage ich dumpf.
„Wir werden Arbeit nicht behindern. Wer kennt Wohnung besser als du? Also!“
Ich nicke.
Wir fahren durch die mir so vertrauten Gassen. Das nette chinesische Restaurant am Eck. Es hat vor zwei Jahren geschlossen. Das Bastelgeschäft ist einem Mobiltelefon-Shop gewichen. Die Bio-Greißlerei gibt es noch, allerdings verkauft die Besitzerin jetzt vor allem Heilkräuter, vedische Medizin, Bücher, wie sie der Yom-Verlag herausbringt, Gesundheitsmatten und Nahrungsmittel, die aussehen, als würden sie wie Matten schmecken. Wir biegen in meine Gasse ein. Vesna flucht auf Bosnisch. Vor meinem Haus stehen zwei Streifenwagen mit Blaulicht. Wir sind zu spät dran.
Wie sich Oskar jetzt fühlen muss? Ich habe seine Tochter auf dem Gewissen. Für eine Story. Das kann er nicht denken. Aber ist es nicht so? Ich wollte herausfinden, was hinter dem Verschwinden von Franziska Dasch, was hinter der Bombendrohung steckt. Ich wollte wieder einmal allen beweisen, dass ich es besser kann. Aber … ich wollte doch einfach die Wahrheit. Nichts anderes. Nicht die Story. Zumindest nicht in erster Linie. Es ist uns entglitten. Verhofen hatte mich gewarnt. Alle haben mich gewarnt. Wie hätte ich wissen können … Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht. Ich darf nicht auch noch Oskar verlieren. Was hat er gesagt? Damit ich es ausschlachten kann? Nein, Oskar. So bin ich nicht. Es ist nur … passiert. Nein, das ist auch falsch. Ich habe gehandelt, also bin ich dafür verantwortlich, was geschehen ist. Man lebt. Man hat gelebt. Man ist tot. Die Frage aber ist: Warum lebt man? Ich weigere mich zu glauben, dass alles ohne Sinn ist. Man lebt, um zu leben. Scheiße, Mira. Schlechte Philosophie hilft dir auch nicht weiter.
„Ich muss zu Oskar“, sage ich.
Vesna schaut mich an. „Du bist dir
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