Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
Auf seinem Überseekoffer. Und das Licht, das durch die bunte Glasscheibe gefallen ist, hat mit ihren Haaren gespielt. Der Verkehr wird weniger. Die Menschen auf der Straße werden weniger. In Wien geht man nicht so spät schlafen wie in anderen Metropolen. Wie in richtigen Metropolen. Dass ich meine Lunge bei jedem Atemzug spüre, ist ganz normal. Mehr als das. Es ist beruhigend. Ich lebe. Warum? Warum ich? Ich gehe Gassen und Straßen entlang, ohne mich in der nächsten Minute an sie zu erinnern. Ich wandere Richtung Gürtel, vielleicht werde ich nach Süden gehen, immer weiter, weiter, weiter, bis ich das Meer sehen kann. Menschen vor einem Hauseingang. Sie lachen. Ich gönne es ihnen, es ist, als käme ich von einem anderen Stern und schaute nur kurz vorbei in diesen Gassen mit ihren hohen alten Häusern, den geparkten Autos, den Menschen, die lachen können, auch wenn sie morgen vielleicht schon weinen, im Land, in dem wenige hungern, immer mehr Angst haben und einige nie genug kriegen können. Wieder biege ich um eine Ecke. Ein grünes Schild. Da war ich schon einmal. Da war ich vor Kurzem schon einmal. „Krokodil“, lese ich, und ein knallgrünes Krokodil blinkt im Sekundentakt. Heute Nachmittag war es geschlossen. Carmen hat uns von dem Lokal erzählt. Ich gehe hinein. Menschen. Viele Menschen, dicht gedrängt stehen sie beinahe bis zur Tür. Jazz, irgendeiner der alten Standardsongs. Eine gebrochene Frauenstimme. Ich sollte sie kennen. Billy Holiday. Sicher. Ich dränge mich vor zur Theke. Vielleicht ist Carmen hier irgendjemandem begegnet. Wem? Und: Ist es wichtig? Hinter der Theke eine junge Frau mit langen, dunklen Zöpfen. Sie stellt Weingläser ab, Menschen greifen danach.
„Carmen Stiller, sie war hier ein paarmal zu Gast. Kennen Sie sie?“, frage ich die junge Frau.
Sie sieht mich forschend und ein wenig mitleidig an. Ich räuspere mich und fahre mir durch die Haare. Ich sehe wahrscheinlich furchterregend aus. „Sie ist cirka eins achtzig groß, hat kurze blonde Haare, schlank, sechsundzwanzig Jahre alt, kommt aus der Schweiz, aber ohne besonderen Dialekt.“
Die Serviererin schüttelt den Kopf. „Die war hier nicht zu Gast.“
Ich drehe mich um, ich hab keine Kraft mehr, weiterzufragen. Nur für einen Moment habe ich gedacht, meine Energie sei zurückgekommen.
„He“, schreit die Serviererin. „Die war hier nicht zu Gast, die hat hier serviert! Seit letzter Woche, wir haben uns gefragt, wo sie geblieben ist.“
„Seit wann ist sie nicht mehr gekommen?“, frage ich scharf.
Nach einem großen Whiskey weiß ich, dass Carmen zum letzten Mal an dem Abend gearbeitet hat, an dem sie zu Vesna in die Wohnung gekommen ist.
„Es war wenig los, sie ist um zehn gegangen“, erklärt Renata mit den langen Zöpfen. „Was ist mit ihr? Sie sollte bloß aushelfen, wenn viel los war, sie war nicht angemeldet, aber dass sie, so ohne was zu sagen, gleich wieder verschwindet …“
„Genau das ist mit ihr. Sie ist verschwunden. Ich suche sie.“
Um eins in der Nacht sperrt das Lokal zu. Anrainerschutz. Ich habe alle befragt, die im „Krokodil“ waren und jemals auf Carmen gestoßen sind. Sie hat allen die gleiche Geschichte erzählt. Sie sei aus der Schweiz, sie habe genug von der Schweiz und wolle jetzt in Wien studieren. Und dafür brauche sie Geld. Deswegen arbeite sie eben als Kellnerin. Nichts von einem Vater. Nichts von reichen Eltern. Nichts von einem Nobelinternat. Nichts davon, dass sie bei Weis war.
„Was? Bei dem schrägen Typen aus dem Fernsehen?“, hat Renata mit großen Augen gefragt.
Ich bedanke mich. Sieht so aus, als hätten wir lange nicht alles gewusst von Carmen. Ob sie womöglich doch nicht Oskars Tochter ist? Aber warum sollte sie ihren Kolleginnen auch auf die Nase binden, dass sie ihren Vater kennenlernen will? Und dass sie aus einem reichen Haus kommt? Um gleich im Abseits zu landen? Carmen hat gesagt, sie habe Geld genug. Sie ist aus dem Hotel ausgezogen. Ein nettes Hotel in mittlerer Preislage. Schweizer sind nicht verschwenderisch, sagt man. Als wir ihr Gepäck geholt haben, hat das Hotel nicht gewirkt, als wäre es voll. Aber die Reisegruppe hat vielleicht bloß Verspätung gehabt.
Ich gehe weiter durch die Straßen. Jetzt überlege ich fieberhaft. Carmen war anders, als wir dachten. Vielleicht ist das eine kleine Chance. Was, wenn sie einfach weitergezogen ist? Das glaubst du doch selbst nicht, Mira. Erinnere dich, wie sie zu dir gesagt hat: „Oskar ist total
Weitere Kostenlose Bücher