Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
Nachbarin schon wieder auf den Boden gespuckt hat. Ich will nicht weg von hier. Ich würde es überleben. Ich bin gut im Überleben. Aber es muss mehr drin sein als bloßes Überleben. Es kann nicht sein, dass Carmen nicht mehr lebt. Es ist nicht so. Mit einem Mal habe ich das sichere Gefühl, dass es nicht so ist. Die Zeit drängt. Sie ist nicht freiwillig verschwunden. Aber sie lebt. Noch.
Ich läute an der Wohnungstür und sperre auf. Zuerst glaube ich, dass Oskar nicht da ist. Kein Geräusch. Damals, als er mit Carmen am Esstisch gesessen ist, haben sie gelacht und ich dachte … Oskar sitzt am Esstisch. Gebeugt. Er wendet den Blick nicht. Ich gehe auf ihn zu. Lege meine rechte Hand ganz vorsichtig auf seinen Rücken. Vor ihm steht eine halb leere Cognacflasche. Für gewöhnlich lachen wir darüber, dass für mich Flaschen immer halb voll und für ihn immer halb leer sind. Diese ist halb leer. Neben ihm steht ein Cognacschwenker. Aus irgendeinem Grund beruhigt es mich, dass er nicht aus einem Wasserglas getrunken hat. Stilsicher bis zuletzt. – Als ob es darauf ankäme.
„Oskar“, sage ich leise.
Er schläft nicht. Er dreht den Kopf ganz langsam weiter weg von mir.
„Es tut mir so leid.“ Es klingt hohl, aber was soll ich denn sonst sagen?
Gismo kommt und streicht um meine Füße. Ohne zu maunzen. Ohne zu schnurren.
„Sie versuchen, Denise zu erreichen. Wenn es klappt, kann sie die Frühmaschine nehmen“, sagt er in den Tisch hinein.
Kein Platz mehr für mich bei den Eltern von Carmen.
„Haben sie dir ihr Mobiltelefon gezeigt?“, frage ich leise. Es darf nicht klingen, als wollte ich ihn aushorchen. Aber welche andere Chance habe ich denn, als sie zu finden?
„Ja.“
„Was war der letzte Anruf?“, frage ich.
„Der kam von dir“, sagt Oskar leise. „Du hast einige Male versucht, sie anzurufen. Auch Vesna. Auch ich.“
„Und die letzte SMS?“
Er lacht und es klingt wie Husten. „Du lässt nie locker, was? Die letzte SMS war an Weis. Sie hat geschrieben: ‚Okay, ich komme.‘“
Ist ihm klar, was das bedeutet? Zuckerbrot ist es sicher klar. „Es sieht so aus, als wäre nichts gelöscht worden, oder?“, frage ich.
„Ja, es sieht so aus. Es sieht so aus, als ob sie es in der Eile verloren hätte. Oder in der Panik. Bevor man sie wegen einer Story fürs ‚Magazin‘ … beseitigt hat.“
Ich nehme die Hand von seinem Rücken.
„Haben sie sie schon ge…“
„Nein!“, schreit Oskar und richtet sich plötzlich auf. „Du willst wohl dabei sein! Vergiss den Fotoapparat nicht!“
„Es tut mir leid“, flüstere ich. Dann gehe ich durch den großen Wohnraum, durch das Vorzimmer, wo am Kleiderhaken mein Lieblingsmantel und Oskars Jacke hängen, durch die Tür, die Stufen hinunter, Treppe um Treppe zum Abschied, und nichts, was mich zurückholt.
Ich muss wohl durch die Innenstadt gegangen sein, ich finde mich am Donaukanal wieder. Ich setze mich auf eine Bank und starre ins Wasser. Schwarz ist es jetzt. Es könnte mich mitnehmen. Aber ich bin keine, die sich umbringt. Ich hasse mich manchmal für meine Lebenskraft. Kann man nicht irgendwann einfach genug haben und Schluss machen? Und dann? Was ist dann? Tot. Eben. Ich stehe auf und gehe weiter. Zwei Frauen gehen an mir vorbei, ins Gespräch vertieft. Ich habe mein Mobiltelefon ausgeschaltet. Ich will nicht vergeblich darauf warten, dass Oskar mich anruft. Ich will einfach gehen. Ich gehe, bis ich beim Fernwärmezentrum bin. Behübscht von Hundertwasser mit goldenen Kügelchen und Türmchen und bunter Malerei, es kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier Abfall verbrannt wird, damit wir es warm haben. Und dass hier Abgase in die Luft strömen. Was ist schon Wirklichkeit? Warum den Schmutz nicht kaschieren? Müssen wir der Wahrheit wirklich immer ins Auge sehen? Ich habe genug von ihr. Es gibt sie gar nicht. Sie ist ein Trugbild, ich bin ihm eitel hinterhergerannt. Was will ich? Gar nichts. Gehen. Heute Nacht gehe ich einfach. Nicht essen. Nicht trinken. Einfach gehen und so wenig wie möglich denken. 9. Bezirk. Hier ist das Freud Museum. Ich hätte mich mehr mit Freud beschäftigen sollen. Eine Schulfreundin arbeitet hier. Oder hat sie da gearbeitet? Ich habe sie aus den Augen verloren wie so viele. Wofür verwendest du deine Zeit, Mira? Ich gehe die Berggasse hinauf und erinnere mich erst, als ich ganz oben angekommen bin, an die junge tote Frau mit ihrem kleinen Rucksack. Sie ist in Freuds historischem Vorzimmer gesessen.
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