Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
anlügt? Warum sollte sie? Ich hab ein Jahr gebraucht, bis ich den Mut hatte, zu kommen, so was brauche ich mir nicht sagen zu lassen!“
„Und warum ist sie dann für Oskar nicht erreichbar?“
Carmen rennt zur Tür. „Wie soll ich das wissen? Keiner verlangt was von ihm. Und von dir schon gar nicht. Es war ein Fehler, herzukommen. Ich hätte es wissen müssen.“ Sie reißt die Tür auf. „Stiefmütter sind so!“, schreit sie im Vorhaus und es hallt von allen Wänden und sie rennt die Stiegen hinunter, davon.
Zum zweiten Mal stehe ich heute mit offenem Mund da. Sollte nicht zur Gewohnheit werden. Ich gehe nach drinnen, schließe Mund und Türe und denke: Stiefmutter. Ich. Stiefmutter. Irgendwie habe ich diesen Gedanken bisher gemieden. Natürlich ginge es sich biologisch aus, dass Carmen meine Tochter wäre. Sie ist sechsundzwanzig. Ich bin sechsundvierzig. Aber Stiefmutter, das ist noch um einiges schlimmer. Irgendwie. Warum auch immer. Man hat keine Chance, sich über Jahrzehnte an ein Kind zu gewöhnen. Man bekommt es über Nacht und merkt plötzlich, dass man alt wird. Ich setze mich an Oskars Schreibtisch. Es wird Zeit, dass ich einen eigenen bekomme. Ich sehne mich nach meiner Wohnung. Dort war ich noch jung, und wenn nicht, dann hab ich es mir zumindest eingebildet. Nein. Ich hab gar nicht darüber nachgedacht, wie jung oder alt ich bin. Gismo starrt mich fragend an. Sie scheint unsere Wohnung längst vergessen zu haben. Die vielen Möglichkeiten, sich zu verstecken. Den hohen Vorzimmerkasten, von dem aus man Besucher anspringen und erschrecken kann. Den alten Fliesenboden in der Küche, auf dem schon so viele Leckereien für sie zu finden waren. Das Bett, Gismo am Fußende. Gismo maunzt. Natürlich. Sie hat noch nichts zu fressen bekommen. Hauptsache, sie hat zu fressen. Und was tu ich üblicherweise bei Sinnkrisen? Aber das ist es ja, Gismo ist nie in der Sinnkrise. Das ist es, was ich ihr übel nehme. Kann man einer Katze so etwas übel nehmen? Hätte sie eine Sinnkrise, sie würde auch fressen. Hilft ja selbst bei mir üblicherweise. Und wenn man schon zu viel gefressen hat? Kotzen. Mira, das kann es auch nicht sein. Du bist müde. Was ist der Sinn hinter dem, was ich tue? Warum lasse ich mich von einem lächerlichen Guru zusammenputzen? Warum bettle ich bei einem Polizisten um Informationen, die ich dann doch nicht bekomme? Warum verbringe ich die Nacht auf einer Autobahnbaustelle, weil eine fadisierte Industriellengattin nach totalem Recycling strebt? Um die Wahrheit zu finden? Vergiss es, die bleibt nicht fassbar. Wahrheit und Recht. Haben nicht viel miteinander zu tun. Gerechtigkeit? Die größten Verbrecher schaffen es auf legalem Weg. Und wer glaubt, dass sie durch ihre eigenen Schuldgefühle bestraft sind, der irrt. Die leben sehr gut. Sie halten sich gar nicht für Verbrecher. Nur weil sie mit maximalem Gewinn spekuliert haben. Weil sie mit Krediten locken, die Dumme und Gutgläubige in den Ruin treiben. Was hat Brecht gesagt? „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Mira. Was willst du? Ich atme durch. Ich berichte. Das ist alles, mehr kann ich nicht tun. Super. Und worüber? Ganz abgesehen davon, dass das ja auch egal ist. Die Leute sehen sich die Bilder im „Magazin“ an und haben spätestens am nächsten Tag alles wieder vergessen. Ohnehin oft besser so. Kann so ein Guru helfen? Wer weiß. Weis sicher nicht. Nicht mir. Gibt es jemanden, der mir sagen kann, wo es langgeht? Oder der mir beibringen kann, es zu erkennen? Ist Zerwolf ein Terrorist? Ich lege meinen Kopf auf Oskars Schreibtisch. Es ist doch völlig egal, wie alt man ist. Ich bin nur müde. Wir werden weitersehen, wenn ich nicht mehr so unglaublich müde bin. Carmen ist weg. Oskar wird mich hassen. Ich bin müde.
Ein Knall. Ich schrecke hoch. Terroristen. Ich weiß zu viel, nur weiß ich nicht, was ich weiß. Ein Teil von Oskars Schreibtischutensilien ist zu Boden gefallen. Schlaftrunken sammle ich sie auf. Oskars Notizblock, eine Schweizer Telefonnummer. „Denise Stiller“, lese ich. Carmens Mutter. Wenn alles wahr ist, was Carmen erzählt. Die böse Stiefmutter wird nachsehen. Ich starte meinen Laptop. Dauert nicht lange und ich bin auf der Seite der Werkzeugfabrik Stiller. Große Hallen, das Unternehmen scheint in erster Linie Schrauben zu erzeugen. Damit kann man so viel Geld machen? Hundertjahrfeier des Unternehmens. Ich gehe auf die Subpage. Da: Denise Stiller. Blonde, halblange Haare,
Weitere Kostenlose Bücher