Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
schlank, äußerst gepflegt. Sie schüttelt einem älteren Mann in einfachem Anzug die Hand. „Denise Stiller gratuliert dem ältesten Mitarbeiter des Unternehmens, Baltasar Rüffi, zu seinem 80. Geburtstag.“ Was? Müssen die Leute dort bis achtzig arbeiten? Quatsch, für so ein Fest holt man die Veteranen aus der Versenkung. Vielleicht sind sie ja auch gern dabei. Dankbar denen, die ihnen Arbeit und Brot gegeben haben. Und an ihnen gut verdient haben. Die Firmengeschichte: Jürgen Stiller, allzu früh verstorben. Sieh an, Carmen ist also sozusagen Halbwaise. Braucht sie deswegen einen Vaterersatz? Siebenhundert Beschäftigte. Warum soll jemand, dem eine solche Firma gehört, lügen, wenn es um den leiblichen Vater der Tochter geht? Auf der Seite mit der Firmenphilosophie ein größeres Foto von Denise Stiller. Carmen sieht ihr ähnlich. Energisches Kinn, die Augenpartie. Denise Stiller ist wahrscheinlich einige Jahre älter als ich. Aber sie sieht jünger aus. Sorgfältig gepflegt. Regelmäßiger Friseurbesuch. Tägliches Fitnessprogramm. Gehört dazu. Fit, schön, leistungsfähig, erfolgreich. Und wenn nichts mehr nützt, gibt es noch Gurus. Oder Schönheitsoperationen. Je nach persönlichem Geschmack. Oder beides. Weis kann seinen Jüngerinnen sicher einen guten Schönheitschirurgen zum Teil-Recycling empfehlen. Ich sehe ihn vor mir, wie er seiner Jüngerin predigt, dass sie aber nie vergessen solle: Äußere Schönheit könne es letztlich nie ohne innere Schönheit und Selbst-Bewusstsein geben. Und dann gibt er ihr die Adresse seines guten Freundes. Und bekommt eine Provision. Oder eine Augenkorrektur gratis. Oder die chirurgische Erneuerung seines Lächelns. Wie steht es eigentlich um mein Selbstbewusstsein? Was ist, wenn Oskar dieser attraktiven Erfolgsfrau nach siebenundzwanzig Jahren wieder begegnet? Ein gemeinsames Kind … Das verbindet. Franziska Dasch. Hat sie eigentlich Kinder? Fotos habe ich keine gesehen. Jedenfalls wären die Kinder wohl schon erwachsen und außer Haus. Und sie würden wohl kaum mit einer Journalistin über die verschwundene Mutter und ihren Drang nach Veränderung reden wollen.
Früher sind die, die sich selbst finden wollten, nach Indien gefahren. Vielleicht hat Franziska Dasch einfach ihre glänzenden Schuhe ausgezogen und ist barfuß auf dem Weg nach Indien? Immerhin hat sie es ja schon mit Lachyoga probiert. Lachen, bis man zu lachen beginnt. Barfuß auf dem Weg nach Indien. Und ohne Mobiltelefon. Nein, Mira. Das spielt es nicht mehr. Jetzt hat man seinen Trip durch Erfolg, und wer ihn nicht durch Erfolg hat, der kauft sich Guru-Wohlbefinden. Das ist bequemer. Und was ist mit all denen, die sich so etwas nicht leisten können? Die haben so viel mit dem Überleben zu tun, dass sie gar nicht zum Nachdenken kommen. Sind sie glücklicher? Wohl nicht. Aber um ein paar falsche Chancen ärmer.
Ich gehe auf die Dachterrasse und hole tief Luft. Ich habe Carmen Unrecht getan. Sie ist die Tochter von Denise. Denise war vor Urzeiten die Freundin von Oskar. Und hat ein Kind von ihm bekommen. Ohne dass sie es ihm gesagt hat. Warum? Hat sie ihm nicht zugetraut, Verantwortung für ein Kind zu übernehmen? Wollte sie nicht, dass er sich um sein Kind kümmert? Wie war Oskar damals? Ich gehe wieder nach drinnen und starre auf das Foto auf der Homepage. Eine starke Frau. Wahrscheinlich. Sieht so aus. Sie wollte das Kind allein aufziehen, keine Komplikationen mit einem Mann, den sie nicht liebte. Carmen ist jung. Es muss verwirrend sein, zu erfahren, dass der leibliche Vater ein anderer ist. War der Unternehmer Stiller schon tot, als Denise es ihr gesagt hat? Offensichtlich. Ich hab mich tatsächlich verhalten wie die böse Stiefmutter. Weil ich Oskar nicht teilen will? Ich war doch nie eifersüchtig. Bisher. Ich hatte auch keinen Grund. Na ja, da ist diese alte Geschichte mit der Anwältin in Frankfurt. Aber üblicherweise ist er der Besitzergreifende. Der nie will, dass ich mich möglicherweise in Gefahr begebe. Er macht sich Sorgen. Willst du, dass du ihm egal bist? Was, wenn Carmen jetzt beleidigt abfährt und nie mehr wiederkommt? Ich habe den Kontakt zu Oskars einziger Tochter zerstört. – Wer sagt, dass es die einzige ist? Mira! Böse! Böse Stiefmutter, du!
Es läutet. Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Oskar. Was sag ich ihm? Wie sage ich es ihm? Ich gehe ihm langsam entgegen. Hinter ihm: Carmen. Na gut. Sehr verletzt war sie also nicht. Weiß ja, an wen sie sich zu halten hat: an
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