Leben macht Sinn
abendländisch-christliche Kultur die Sinne jahrhundertelang verdammt. Aber sie sind auch unsere unermüdlichen Helfer, unsere Wächter, selbst wenn wir schlafen. Unsere Sinne erlauben uns, auf Autopilot zu schalten und dennoch geschmeidig zu reagieren ohne das Bewusstsein zu behelligen, wie es kein Computer je könnte. Ein Großteil der Informationen, die wiraufnehmen, versinken in den Tiefen des Unbewussten, dort wo unsere Urerfahrungen archiviert sind. Das Unbewusste steuert uns aus dem Off, beurteilt und bewertet alles, was wir erleben. Wir riechen den Duft eines Kirschbaums oder den salzigen Geruch des Meeres, und ein Ferientag aus längst vergangenen Sedimentschichten der Kindheit entfaltet sich vor unserem inneren Auge. Es genügt ein bestimmter Melodiefetzen oder ein Lieblingsmotiv, selbst die lächerlichste Schnulze kann Auslöser sein, und die Tränen fließen, weil eine alte Liebesgeschichte nach oben geschwemmt wird. Unsere Sinne sind die direkten Antennen zur Welt von früher und von heute. Und vor allem zu uns selbst.
Zwar ist unser Sehsinn für die Orientierung am wichtigsten, aber empfänglicher, sensibler und leistungsfähiger ist unser Ohr. Im Ohr befinden sich die meisten Sinneszellen. Sogar schon fünf Monate vor unserer Geburt ist der Gehörsinn völlig entwickelt. Er ist auch der Sinn, der sich zuletzt von uns und der Welt verabschiedet. Erst im Zusammenspiel der Sinneswahrnehmungen erzeugt das Gehirn ein sinnvolles Bild unserer Umgebung. Beispielsweise das Zusammenspiel zwischen Zunge und dem Riechzentrum. Die meisten Empfindungen, die man selbst für Geschmack hält, sind eigentlich Gerüche. Schon die Säuglinge nehmen den Duft der Mutter auf und speichern die Erinnerung daran für ein ganzes Leben.
Mit den Sinnen erfährt man Sinn. Bei jedem mögen die Sinne anders entwickelt und kultiviert sein: Einer hat mehr Sinn für Farben, der andere für Klänge, Geschmacksrichtungen oder Gerüche. In jeder dieser Ausrichtungen geht es um eine Sensibilität, eine Aufnahmefähigkeit, die es uns gestattet, eigensinnige Erfahrungen zu machen und uns in der Welt zu orientieren. Es liegt auf derHand: Je mehr wir unsere Sinne nutzen, desto feinspüriger und differenzierter werden sie. Und je feiner sie sind, desto reicher, erfüllter und sinn-voller wird unser Leben. Unsere Wahrnehmung wird immer vielfältiger, wacher und sinnlicher und damit auch unsere Beziehung zur Welt. Eine ältere Frau, die nach einem Bandscheibenvorfall ihre eigene Idee umsetzte, sagt: »Seit ich täglich barfuß gehe, erlebe ich die Welt anders. Ich stelle mir immer vor, ich hätte Katzenpfoten, die den Boden ganz behutsam ertasten. Ich bin seither friedlicher geworden, und gehe viel liebevoller mit mir selbst um. Es ist, als hätte ich feine Antennen an meinen Fußsohlen, die mir Auskunft geben, wie es um mich steht. Und das Allerschönste: Ich erlebe meinen Körper ganz neu, es ist, als würde jeder Schritt durch meinen ganzen Körper vibrieren. Das möchte ich nie mehr missen.«
Kaum ein Medium, das besser geeignet ist, die Großzügigkeit der eigenen Sinne zu entdecken, ist der schöpferische Ausdruck. Ob wir uns malend, singend, schreibend, spielend oder tanzend ausdrücken, ist nicht entscheidend. Wesentlich ist, dass wir für einen Moment lang wegkommen vom ständigen Unterscheiden zwischen Wirklichem und Unwirklichem, und uns die Freiheit erlauben, im Unwirklichen Wirkliches zu entdecken und umgekehrt. Es steht nirgends geschrieben, dass wir nur eine Art der Wahrnehmung leben dürfen. Warum sollten wir nicht mit dem gleichen Glauben, der gleichen Neugier anderen Wahrnehmungen trauen? Kreative Erfahrungen, die nicht von den gängigen Systemen von Logik, Pragmatik und Wissenschaft abgedeckt sind, aber dennoch so dicht, stimmig, und sinnstiftend sind, dass ihnen die allerhöchste Wirklichkeit zukommt, gehören zu den kostbarsten Sinneserfahrungen.
Sie bringen uns mit unserem eigenen Ausdruck, unserem Eigensinn in Berührung. Sie haben mit Freiheit zu tun. Das wissen am besten die, die sich ihre Nischen und Gefühlsräume geschaffen haben, in denen sie sich ausdrücken und ihren eigenen Phantasien hingeben. In einem Raum, der die Fesseln von Nutzen abwirft, weil kreativer Ausdruck eben etwas ist, das man nicht kaufen kann, wofür man nicht um Lizenz fragen muss. Wo man sein eigenes Gesicht zeigen kann und verschieden sein darf im Fühlen und Tun. Für die Tanztherapeutin Gabrielle Roth aus New York ist es der Tanz: »Leben
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